Full text: Deutsches Lesebuch mit Bildern für Volksschulen

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uns ein Unglück begegnen. Lass uns erst in die Kirche geben. Der 
ältere antwortete: „Ich bin auch dabei. Mir hat auch diese Nacht wunder¬ 
liches Zeug geträumt; ich weiss es aber nicht deutlich mehr; nur dass ich 
blutete.“ Sie liessen also ihren Schlitten an der Kirchthür stehen, gingen 
hinein und beteten. Dann fuhren sie weiter und waren recht wohlgemut, 5 
ob sie gleich einmal über das andere tief in den Schnee fielen, und dürres 
Holz fanden sie auch in Überfluss. Und schon waren sie beschäftigt, es 
auf dem Schlitten zusammenzulegen und festzubinden, als sie in der Ferne 
zwei Wölfe erblickten, die in gerader Richtung auf sie zuliefen. Ihnen zu 
entrinnen, war unmöglich; ein Baum, auf den sie sich hätten retten können, 10 
war nicht in der Nähe, denn rings umher war nur Buschholz, und was hätte 
ihnen auch der höchste Baum geholfen? Die Wölfe hätten dabei Wache 
gehalten, und sie hätten verhungern müssen. W as thun sie also in dieser 
Not? Der ältere, ein entschlossener Knabe, deckt den kleineren mit dem 
Schlitten zu, wirft so viel Holz darauf, als er kann, und ruft ihm zu: „Bete, 15 
aber rühr dich nicht. Ich habe Mut.“ — „Ach mein Gott,“ sagte der 
Kleine weinend, „wenn wir umkämen, die Mutter stürbe vor Gram. Der 
eine Knabe stak also unter dem Schlitten und dem dürren Holze; der 
grössere aber, der Janko, stellt sich mit der Axt in Positur, und wie der 
eine Wolf, der am hitzigsten vorausgelaufen ist, herankommt, versetzt er 20 
ihm einen Hieb in den Nacken, dass er zu Boden fällt. In diesem Augen¬ 
blick packt ihn der andere Wolf am Arm und wirft ihn zu Boden. Hier 
fasst er nun mit krampfhafter Angst das Untier mit beiden Händen an der 
Kehle und hält den weit geöffneten Rachen von sich ab, ohne doch zu 
schreien, um das Leben seines Bruders nicht in Gefahr zu bringen. Diesen 25 
aber ergreift in seinem Versteck eine unbeschreibliche Angst. Er wirft 
den Schlitten und das Holz von sich, rafft die zur Erde gefallene Axt auf 
und versetzt dem Wolfe einige Hiebe auf den Rücken. Dieser wendet sich 
nun gegen den neuen Feind, und er würde ihn ohne Zweifel zerrissen haben, 
hätte sich der andere nicht blitzschnell aufgerafft und die Axt dem Wolfe 30 
in den Kopf geschlagen. So waren also zwei schwache Knaben durch 
Gottes Hilfe und ihren Mut Herren von zwei furchtbaren Raubtieren 
geworden, ohne selbst eine gefährliche Wunde bekommen zu haben. Ver¬ 
wundert sahen sie sich jetzt einer den andern an, dann die Tiere, die mit 
offenem Rachen tot auf dem Rücken lagen, und staunten über das furcht- 35 
bare Gebiss und die gewaltigen Zähne, die sie hatten zermalmen sollen. 
Dann knieten sie nieder, kreuzten sich und beteten; und nachdem sie 
Gott für ihre wunderbare Rettung gedankt hatten, kamen sie jubelnd mit 
ihrem Holze und den beiden erlegten Wölfen auf dem Schlitten nach 
Hause, wo sie mit den Wölfen durch die Strassen zogen, ihre Geschichte 40 
erzählten und von der ganzen Stadt bewundert und geliebkost und beschenkt 
wurden. 
16. Der Wolf und der Mensch. 
(Märchen. — Brüder Grimm.) 
Der Fuchs erzählte einmal dem Wolf von der Stärke des Menschen, 45 
kein Tier könnte ihm widerstehen, und sie müssten List gebrauchen, um
	        
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