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54. Jerusalem.
(Berthelt nach Schulz, Plitt u. a.)
Noch eine felsige Hochfläche ist zu ersteigen, und vor den suchenden Blicken
liegt Jerusalem. Von kahlen Bergen und dürren Thälern umgeben, streckt
-es sich einsam über eine behügelte Hochstäche und bietet von der Westseite her 5
fast nur den einförmigen Anblick seiner hohen mit viereckigen Türmen besetzten
Mauern. Wie in eine trostlose Gebirgswüste ist die Tochter Zion dahergeworfen.
Keine Herde wandelt auf dem Rücken dieser Berge, kein Wald noch Gebüsch
begrünt diese Abhänge, kein Wasser durchrieselt die durstigen Thäler. Und
doch ist das Gemüt beim Anblick dieser Stadt und Gegend von Rührung, tO
Dank und Anbetung im Tiefsten ergriffen.
Zu unseren Füßen lag Jerusalem, leuchtend im Sonnenglanze. Die
Kuppeln der Kirchen und Klöster, die Minarets der Moscheeen ragen empor
über das Gewirre der meist gleichförmigen und unansehnlichen Häuser mit
teils gewölbten, teils platten Dächern. Auf dem Hügel Akra fallen die 15
Kuppeln der Kirche des heiligen Grabes in die Augen, weiter zur Linken der
lang gestreckte Rücken des Berges Zion. In scharfen Umrissen zeichnet sich
die Burg Davids am Himmel ab, und nahe dabei leuchtet eine kleine an-
- mutige evangelische Kirche. Noch weiter südwärts dehnt sich das große armenische
Kloster bis nahe an die südliche Stadtmauer aus. Außerhalb des Zions- 20
thores setzt sich die Höhe des Zion noch eine ziemliche Strecke fort und zeigt
auf ihrem wüsten, unbebauten Rücken eine kleine Moschee, bis sie sich steil in
das Thal Hinnom absenkt. In dieses Thal mündet von der Westseite der
Stadt das Gihonthal und von der Ostseite her das Thal Josaphat. Aus
der letztgenannten Schlucht erhebt sich der berühmte Hügel Moriah, auf 25
dem einst Salomos Tempel prangte, jetzt aber die Omars-Moschee mit ihrer
mächtigen Kuppel.
Unser erster Gang war durch die sogenannte Pilgerstraße nach der Kirche
des heiligen Grabes, einem weitläufigen, vielfach zusammengesetzten Gebäude.
Am Haupteingange schiebt sich ein starker, aber halb abgebrochener Glocken- 30
türm empor. Beim Eintritt durch das schöne, zur Hälfte vermauerte Doppel¬
portal sieht man in der Vorhalle aus einer kleinen Erhöhung die türkische Wache
behaglich auf Polstern sitzen, Kaffee trinken und aus langen Pfeifen rauchen.
Geradeaus fällt der Blick auf eine weiß marmorne Fußplatte, welche den Ort
bezeichnen soll, wo der Leichnam Christt gesalbet ward. Zur Rechten dieser 35
Vorhalle erheben sich die Kapellen, welche den Felsen von Golgatha umschließen,
in dessen Innerem sich eine Grotte mit den Gräbern Gottfrieds von Bouillon
und seines Bruders befindet. Der mittlere Teil der Gesamtkirche, das so¬
genannte Chor der Griechen, ist der ansehnlichste und zugleich am prächtigsten
geschmückte Raum. Drei Gitterthüren führen von da in die eigentliche Kirche 10
des heiligen Grabes. Zwei Säulengänge, der eine über dem anderen, laufen
längs ihrer runden Wände. Über ihnen wölbt sich eine majestätische Kuppel,
durch deren große Öffnung das Tageslicht prächtig hereinströmt. Senkrecht
darunter steht, wie eine kleine Kirche in einer großen, das heilige Grab, von
weißem Marmor aufgeführt. Im Innern enthält es zwei in den Kreidefelsen 45
gehauene, aber gleichfalls mit Marmor überkleidete Gemächer. Durch die