Metadata: Deutsches Lesebuch für Lehrer- und Lehrerinnen-Seminarien

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redlichen Bemühens, und man könne sich ja abwechselnd der Kunst wie der Natur 
hingeben (Strophe 2). 
Von dem besondern Falle, der das Sonett betrifft, erhebt er sich sogleich zu 
dem allgemeineren Gedanken, es verhalte sich mit aller Bildung so: sie erfordere ein 
redliches Bemühen. Menschen von ungebundenem Geiste, die alle Regel und Vor¬ 
schrift verschmähen, werden nicht etwas schön Vollendetes (nichts Vollkommenes) zu 
stände bringen (Strophe 3). Wer also Großes hervorbringen will, der muß (sich 
zusammenraffen, d. h.) sich Gewalt antun, sich anstrengen, Regel und Vorschrift zu 
achten und zu befolgen; denn eben darin zeige sich (der Meister, d. h.) der in 
seinem Fache Tüchtige, und wahre Freiheit erlangen wir nur dadurch, daß wir das 
Gesetz achten, innerhalb seiner Schranken uns bewegen und dieselben nie überschreiten 
(Strophe 4). 
In der geschichtlichen Verknüpfung der vorstehenden drei Sonette 
haben wir eine Aufklärung über das Wesen des Sonetts und einen er¬ 
wünschten Beitrag zur Geschichte dieser Dichtungsart. 
28. Über den hohen Wert der Spruchweisheit. 
Von I. G. v. Herder (1744-1803). / ^ > / YX/ 
Gewöhnlich hält man nichts von geringerem Werte als Sprüche. Wie bald, 
denkt man, ist ein Spruch gesagt, wie bald eine sogenannte Weisheitslehre vorge¬ 
tragen! Man verlegt sie also in die Kindheit des menschlichen Geschlechts, man läßt 
sie höchstens als ersten Unterricht, als eine Verstandes- und Sprachübung gelten. 
Vieles hiervon ist wahr; und die Zeit ist allerdings längst vorüber, in der 
man durch rätselhafte oder scharfsinnige Sprüche den Ruhm eines Salomo oder des 
achten Weisen Griechenlands erlangen könnte. Indessen hatte auch in den ältesten 
Zeiten die Sache eine andere Beschaffenheit, und es lassen sich Gründe anführen, 
warum insonderheit die Morgenländer so viel auf diese Spruchweisheit hielten. 
Ein Spruch nämlich setzt Weisheit, Weisheit setzt Erfahrung voraus, und ich K 
wüßte kaum, was das menschliche Leben dem Verstände für eine bessere Ausbeute , > 
liefern könnte als eben diese aus Erfahrung gebildete, in eine anziehende Form 
gekleidete Weisheit. Wem: diese nun ein Spruch heißt, so sind Sprüche gleichsam 
das ganze Resultat des beobacht^-'menschlichen Verstandes; nur muß man Verstand 
haben, ihren Verstand zu fassen, und Gefühl haben, die Schönheit ihres Ausdruckes 
zu fühlen. 
Glaube doch niemand, daß an jedem Gegenstände jeder dasselbe sehe und 
wahrnehme; sonst würde es keine verschiedene Meinungen in der Welt geben. Glaube 
niemand, daß jede verwickelte Aufgabe im menschlichen Leben jede/auf gleiche Weise ^^ 
auflöse oder vielleicht nur irgend auszulösen die Besonnenheit und geläufige 
Übung habe. Denn wäre dies, so würde es keine Blödsinnigen, keine Sklaven der^"" 
Gewohnheit, keine gedankenlose Nachsprecher geben. Je mehr man die Menschen in 
ihrer Gedanken- und Handlungsweise verfolgt, desto mehr wird man inne, wieN p i 
wenige unter ihnen selbst denken, und wie schwer es auch diesen wenigen werde, 
immer zu denken. Man rechnet so gern mit Ziffern; man bringt so gern den Traum^.^^ 
einer Wahrnehmung unter die Formel einer allgemeinen Lehre, einer entweder von 
uns oder von andern gemachten Beobachtung, wodurch denn mit der leichtesten Mühe % e. 
der rohen Materie gleichsam Gestalt und Form wird. Die hellsehenden Geister, die 
solche Gestalten der Beobachtung erschufen und auch der Sprache in glücklichen 
Formen einprägten, sie waren, in welcher Zeit und unter welchem Volke sie lebten, 
die Salomone und Solons ihrer und der folgenden Zeiten. Sie hatten Perlen aus 
dem Grunde des Meeres geholt; sie hatten aus einer rohen Masse geläuterte Gold¬ 
münzen geprägt, deren innerer Wert von Verständigen anerkannt, deren Summe 
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