Full text: (Fünftes und sechstes Schuljahr) (Teil 3, [Schülerband])

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hoffnungsvollen Jüngling dahin. Nach ihm übernahm Herzog Leopold 
von Österreich die Führung des Heeres. 
In Deutschland wollte man lange nicht glauben, daß der Schirmherr 
des Reiches, der gefürchtete und geachtete Kaiser Rotbart, wirklich gestorben 
sei. Die Volkssage hat ihn nach Thüringen in die Burg Kyffhausen 
versetzt. Dort sitze er im unterirdischen Saale nachdenkend und sinnend am 
Marmornen Tische. Zu Zeiten gelingt es einem Sterblichen, in jenes Gemach 
zu dringen. Dann wacht der Kaiser aus seinem Schlummer auf, schüttelt 
den roten Bart und begehrt Kunde, ob noch krächzende Raben den Kyff- 
häuserberg umkreisen. Solange die schwarzen Vögel noch um die Felsen¬ 
krone flattern und ein Adler sie nicht Hinweggetrieben hat, solange — meldet 
die Sage — verharrt auch der Alte noch in seiner verzauberten Burg. *) 
Vernimmt er, daß sie noch kreischen, so blickt er düster vor sich hin, seufzt 
kies und spricht: „Schlafe wieder ein, müde Seele! Noch muß ich hundert 
Jahre harren, bevor ich wieder unter meinem Volke erscheine." Zuletzt soll 
den schlummernden Kaiser ein Hirt gesehen haben, der seine Ziegen durch 
die goldene Aue trieb und sich am Kyffhäuserberg verirrte. Der Bart des 
Kaisers war beinahe um den Marmortisch geschlungen. Wenn er denselben 
ganz bedeckt, dann erwacht Friedrich Barbarossa, und die Raben sind ver¬ 
scheucht. 
110. Kanut der Große. 
ftstrl Heinrich Cnspari. Geistliches und Weltliches. II. Aufl. Erlangen, 1875. S. 189. 
König Kanut der Große ging einst am Meeresufer spazieren. Seine 
Hofleute schmeichelten ihm nach Gewohnheit und sagten, er sei ein Gott auf 
Erden; denn er sei ein Herr über Land und Meer und nichts sei ihm un¬ 
möglich. Da gerade ein Sturm die Meereswellen wider die Küste warf, 
gebot der König, einen Stuhl herzu zu bringen, setzte sich darauf und rief: 
»Das Land ist mein, darauf ich sitze, und das Meer auch, das dies Land 
umgiebt! So gebiete ich nun dir, Meer, daß du augenblicklich dich legst und 
die Füße deines Herrn unberührt läßt!" 
Die Meereswellen aber schlugen nach wie vor in die Höhe und be¬ 
spritzten den König über und über. Da stand er auf, deutete auf sich und 
sprach: „Sehet, das ist ein König!" dann auf das wogende Meer und an 
den Himmel und sprach: „Und sehet, das ist Gott!" 
) Vgl. Friedrich Rotbart duf dem Kyfihäuser. II. Teil.
	        
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