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13. Der Dornstrauch.
6. E. Lessing. Gesammelte Werke. I. Band. Leipzig, 1853. 8. 162.
„Aber sage mir doch,“ fragte die Weide den Dornstrauch,
„warum du nach den Kleidern des vorbeigehenden Menschen so
begierig bist? Was willst du damit? Was können sie dir helfen?“
„Nichts!“ sagte der Dornstrauch. „Ich will sie ihm auch nicht
nehmen; ich will sie ihm nur zerreißen.“
14. Der Geizige,
6. E. Lessing. Gesammelte Werke. I. Band. Leipzig, 1853. 8. 156.
„Ich Unglücklicher!“ klagte ein Geizhalz seinem Nachbar.
„Man hat mir den Schatz, den ich in meinem Garten vergraben
hatte, diese Nacht entwendet und einen verdammten Stein an dessen
Stelle gelegt.“
„Du würdest,“ antwortete ihm der Nachbar, „deinen Schatz
doch nicht genutzt haben. Bilde dir also ein, der Stein sei dein
Schatz, und du bist nichts ärmer.“
„Wäre ich auch schon nichts ärmer,“ erwiderte der Geizhals,
„ist ein andrer nicht um so viel reicher? Ich möchte rasend werden!“
15. Die Königin Luise und ihr Lehrer.
I. L. Ewald. Aus: Lebensbilder II. Deutsches Lesebuch von Berthclt, Jäkel rc. 15. Aufl.
Leipzig, 1856. S- 9.
Ein schon ziemlich bejahrter Lehrer, welcher der verstorbenen, allgemein
verehrten Königin Luise von Preußen in ihrer Jugend zu Darmstadt im
Schönschreiben Unterricht erteilt hatte, faßte den Entschluß, nach Berlin zu
reisen, um die Freude zu haben, seine Schülerin vor seinem Ende noch ein¬
mal zu sehen. Er kam in Berlin an und ließ sich bei der Königin als ein
alter Bekannter aus Darmstadt melden. Die Fürstin ließ ihn sogleich vor
sich kommen und freute sich sehr, ihn wiederzusehen. Sie unterhielt sich
einige Stunden mit ihm, und auch der König, der dazu kam, nahm Anteil
an dem Gespräche. Die Königin fragte ihn endlich, ob er denn kein Anliegen
babe, indem sie sich nicht vorstellen könne, daß er so ohne allen besonderen
8weck die weite Reise unternommen habe. Allein er versicherte, er brauche
lichts, sondern habe sein gutes Auskommen, und der einzige Beweggrund
nner Reise sei gewesen, seine ehemalige Schülerin noch einmal wiederzusehen.