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Es ist ein schöner Abend zu Anfang September des unvergleichlichen
Jahres 1870. Ist schon in Friedenszeiten viel zu reden am Brunnen, wie¬
viel tausendmal mehr noch in solchen Kriegszeiten! Hier schwirren und brausen
sie alle, die Gerüchte von Sieges- und Heldentaten der Tapfern, der Männer
und Brüder. Und wie großartig und übertrieben sie manchem klingen, sie
werden dennoch beinahe übertroffen von der wahren und wirklichen Kunde,
die der alte Lehrer mit der Hornbrille laut und vernehmlich vorliest, so oft
wieder ein neuer Sieg errungen ist.
2. Heute sind nicht bloß Mädchen und Frauen am Brunnen versammelt,
nein, auch Männer und Burschen genug. Sie kommen noch herbeigelaufen aus
den Türen, Alte und Junge, selbst Lahme und Krüppel; denn hoch oben
auf der Tonne steht wieder der Lehrer und liest mit weitschallender Stimme:
Der Königin Augusta, Berlin.
Vor Sedan, 2. September, l/22 Uhr nachmittags. Die Kapitulation, wodurch die
ganze Armee in Sedan kriegsgefangen, ist soeben mit dem General Wimpffen abgeschlossen,
der an Stelle des verwundeten Marschalls Mac Mahon das Kommando führt. Der
Kaiser hat nur sich selbst mir ergeben, da er das Kommando nicht führt und alles
der Regentschaft in Paris überläßt. Seinen Aufenthaltsort werde ich bestimmen, nach»
dem ich ihn gesprochen habe in einem Rendezvous, das sofort stattfindet. Welch eine
Wendung durch Gottes Führung! Wilhelm.
So las der Lehrer. Da war's zuerst ganz still über der Versammlung;
nur der Brunnen rauschte im beifälligsten Gemurmel.
3. Aber jetzt bricht's um so lauter los, ein allstimmiger Jubelruf! Die
Buben schreien: Napolium gefangen? Die Mädchen kreischen: Die Franzosen
sind alle geworden! — Die Besonnenen wollen's noch einmal hören. Es
ist zu groß und zu köstlich, dies teure Königswort; man kann sich gar
nicht satt daran hören, so echt königlich, weil es so demütig, so gläubig
ist. Da werden Augen feucht, die es lange nicht geworden. Da wallen
Herzen auf, die sonst nichts aus der alltäglichen Ruhe bringt.
„Kinder," ruft der alte Lehrer, „Kinder, die Hüte herunter! Zuerst
Gott die Ehre!" Und nun stimmt er an: „Nun danket alle Gott!", und sie
stimmen alle ein. Das ist ein Singen und ein Klingen aus tiefster Brust.
Und der Brunnen rauscht dazu wie Orgelton, und ein Vogel hoch oben in
der Linde schmettert drein wie der Zimbelstern, wenn sie in der Kirche
singen: „Wie schön leucht't uns der Morgenstern!" —
„Kinder," hebt der Lehrer wieder an, „zuerst dem himmlischen und
nun dem irdischen König die Ehre, dem Teuern und Einzigen, unserm lieben
Herrn Wilhelm! Er lebe hoch mit seinem ganzen Hause!" —