210 —
6. *Komm in die 'Kammer des bleichen verlassenen Kranken;
säusl' ihm durchs Fenster, das blühende Reben umranken;
sprich ihm ins f}er^
himmlischer Tröster im Schmerz,
göttliche Friedensgedanken!
7. lveh' um des Sterbenden Stirne mit kühlenden Palmen:
öffn' ihm den Blick nach der Ewigkeit sonnigen Almen;
flüstr' ihm ins Ohr
Töne vom oberen Thor,
Klange von himmlischen Psalmen!
•fiaxl Verok. (Gekürzt.)
113. Etwas vom Geben.
1. Selbst recht geben zu können, ist eine Kunst, die gelernt sein will;
denn mit dem bloßen in die Tasche Greifen ist's noch nicht getan. Aber
ebenso schwer ist es, andre zum Geben zu bringen und ihnen die Selig¬
keit des Erfreuens zu Gemüte zu führen.
Ich hab's einmal versucht mit meinen Schülern, denen ich im Gym¬
nasium Religionsunterricht zu geben hatte. Es waren ungefähr vierzehn
Jungen. Ich hatte sie die schönsten Weihnachtslieder dreistimmig singen
gelehrt, und nun sagte ich zu ihrem größten Erstaunen kurz vor Weihnachten,
wenn's ihnen recht wäre, so wollten wir dieses Jahr einmal Weihnachten
feiern, wie sie's vielleicht bis jetzt noch nicht gefeiert hätten, nämlich so,
daß sie selbst arm und andre reich würden. Da schauten inich die
Bubenaugen groß an. „Ja, ja," sagte ich, „wer nicht mit will, braucht
nicht mit und kann allein bei seinen Sachen bleiben und seinen Kuchen
allein aufessen; aber wir wollen's so machen. Jeder von euch gibt einen
Teil von dem her, was er geschenkt bekommen hat, und das schenken wir
armen Kindern, die nichts kriegen. Aber wir lassen sie nicht zu uns
kommen, sondern wir gehen zu ihnen hin, damit ihr auch einmal lernt,
Katzentreppen steigen und eure Köpfe bücken." Es waren lauter reiche
Jungen, die staunend vor mir standen. „Also aus Wiedersehen am ersten
Weihnachtstag abends um fünf, und die Weihuachtslieder mitgenommen
und die Kehlen recht brav eingeölt, und dann wollen wir losziehen."
2. Sie kamen alle, keiner fehlte. Drei hatten geschmückte Christbäume
mit, die andern große Körbe, die ihnen ihre Bedienten nachschleppten,
neue Silberstücke in Menge, Äpfel und Nüsse und Zucker und Spielwerk,
alte und neue Kleider. Da ging's denn durch den dichten Schnee in die
dunkle Stadt, fast bis aus Ende, wo die ärmsten Leute wohnten. Mancher