Full text: [Dritter Teil = (6. bis 8. Schuljahr)] (Dritter Teil = (6. bis 8. Schuljahr))

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2. Bestürzt sieht Lotte den Vater an. „Ich dachte, ich sollte bei euch 
bleiben und der Mutter Helsen." — „Bei uns bleiben sollst du auch; aber 
die Mutter braucht noch keine Hilfe. Solange sie so gesund und rüstig ist, 
darfst du hier im Hause nicht müßig gehen. Ein junger Mensch braucht 
Arbeit und ernste Pflichten so gut wie Nahrung und Schlaf. Sonst kommt 
er aus böse Gedanken und gerät auf Abwege, die ihn krank machen an 
Leib und Seele. Bis jetzt hat der Schulbesuch eure Zeit ausgefüllt, nun 
muß etwas andres an seine Stelle treten; es fragt sich nur, was!" 
3. Marie Wegner, ein blasses, zartes Mädchen, sieht nachdenklich auf. 
„Ich soll in die Fabrik gehen; Mutter meint, unsereins kann doch nichts 
lernen, was die Mühe und Kosten lohnt." — „Natürlich, das ist am be¬ 
quemsten!" brummt Vater Köhler unwillig. „Hat sich denn deine Mutter 
schon erkundigt, ob du wirklich nichts andres lernen kannst? Die schlechte 
Luft und das ewige Einerlei in der Fabrikarbeit, wobei tausendmal am 
Tage derselbe Griff zu machen ist, das kann ich weder für gesund noch 
für erfreulich halten." — „Ich auch nicht," sagt Marie leise, „aber Dienst¬ 
mädchen soll ich nicht werden." — „Natürlich, dazu seid ihr zu vor¬ 
nehm!" wirft Frau Köhler gereizt ein, denn ihre beiden Ältesten „dienen" 
ja auch. 
4. „Nicht hitzig werden, Mutter", begütigt ihr Mann. „Mariechen 
ist viel zu klein und schwächlich für einen Dienst; aber es gibt doch noch 
andre Berufe. Sieh, hier habe ich mir ein Buch besorgt, darin sind zwölf 
Fortbildungsschulen für Mädchen aufgezählt, neun städtische und drei private. 
Es ist wirklich zum Staunen, was heute getan wird, um der heranwachsen¬ 
den Jugend das Ergreifen eines geeigneten Berufes zu erleichtern. Hier 
sind auch die Jahresberichte vom Lette-Verein und vom Pestalozzi-Fröbel- 
hause. Das sind beides Anstalten, die von wahren Menschenfreunden ins 
Leben gerufen wurden, um euch Mädchen in allen Dingen zu unterrichten, 
durch die ihr später euer Brot erwerben könnt. Und ebenso wie hier in 
Berlin wird auch in andern Städten für die Ausbildung der Jugend ge¬ 
sorgt. Nein, nein, lernen könnt ihr schon genug; ihr müßt nur wirklich 
arbeiten wollen. Da lobe ich mir unsre beiden Ältesten. Klara hat, als 
sie noch die Gemeindefchule besuchte, an dem hauswirtschaftlichen Unterrichte 
dort teilgenommen und ist dann im Pestalozzi-Fröbelhause zu einem tüch¬ 
tigen Dienstmädchen ausgebildet worden. Sie hat sich als herrschaftliche 
Köchin jetzt schon nahezu 1000 Mark zur Aussteuer gespart. Else hat im 
Lettehause das Schneidern, Putzmachen, Frisieren u. a. gelernt und begleitet 
jetzt als Jungfer ihre Herrin auf den schönsten Reisen. Die häuslichen 
Berufe sind doch die besten; da lernen die Mädchen, was sie später einmal 
als Hausfrauen brauchen! Wie soll denn ein Fabrik-oder Ladenmädchen, 
das sich verheiratet, seinen Hausstand ordentlich, billig und behaglich ein¬ 
richten und führen? Das scheint euch so leicht zu sein, weil die Mutter 
es kann, und es ist tatsächlich doch recht schwer."
	        
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