Full text: [Dritter Teil = 5. bis 8. Schuljahr, [Schülerband]] (Dritter Teil = 5. bis 8. Schuljahr, [Schülerband])

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Rebe ablösen, sind die Aerne hart, die Beerenhülsen weich und durch¬ 
sichtig geworden, so ist die Lesezeit gekommen. Durch die Schelle 
wird dann verkündigt, an welchem Tage die gemeinsame Lese be¬ 
ginnen kann. Bis zu diesem Augenblicke sind die Weinberge, mit 
Ausnahme großer Besitzungen, sür jedermann, sür die ganze Ein¬ 
wohnerschaft des Mrtes geschloffen. Verhaue und Decken versperren 
die Zugänge, Eindringlinge werden durch die Winzerschützen einge¬ 
bracht und mit Geldstrafen belegt. Es geschieht um der gegenseitigen 
Sicherheit willen. Nur in besonderen Fällen wird unter Aufsicht 
eines „Ehrenschützen" nach eingeholter amtlicher Erlaubnis eine 
frühere Lese sür den einzelnen Besitzer gestattet, z. B. bei Weingärten 
mit Frühburgundertrauben. Wie der Tag des Lesebeginns, so wird 
auch der Tag des Weinbergschlusses amtlich bestimmt. 
Und nun 
„tappelt's hinaus 
mit Mann und Maus, 
mit Kübeln und Bütten! Das ftaus verläßt 
selbst Kind und Kegel beim Lesefest." 
Die rebengeschmückten Berge des Nlittelrheins mit ihren grünen, 
schlanken Trostesspendern, die der Hand des Winzers harren, liegen 
vor uns. Schon tönt uns der hundertstimmige Gesang der Winze- 
rinnen und Winzer entgegen. Aus der ganzen Straße, die wir in 
der Richtung nach den Weinbergen berühren, herrscht reges Leben. 
Richtwagen und Winzer mit Aannen und Bütten ziehen hin und 
her. U)ir treten in den Weinberg. Eine Gruppe fröhlicher Nkädchen, 
Frauen und Ainder, die in der Lese rüstig Hand anlegen, empfängt 
uns. Ein Blick hinunter auf den herrlichen Strom mit seinen 
lachenden Ortschaften, ein Blick auf die frischen, heitern Gesichter, 
und unsere Stimmung gibt der der Winzerinnen nichts nach. 
Vor uns, auf sanft anstrebendem Hügel, in fast peinlicher Ord¬ 
nung und in gleichmäßiger Entfernung voneinander stehen die Wein- 
stöcke, schon halb der rauhen Witterung ihren Tribut zollend; zum 
Teil haben sie das.Saftgrün ihres Blätterschmuckes mit einem satten 
Gelb vertauscht. Über die Weingärten hinaus ragt der zinnenge¬ 
schmückte Bergfried eines mittelalterlichen Burgrestes. Eine der 
Winzerinnen kommt uns entgegen und reinigt uns mit Weinblättern 
die Stiefel, eine Sitte, die sich in den rheinischen Weinbergen jeder 
Eindringling gefallen lassen muß; eine klingende Gabe scheucht sie 
wieder hinweg, und fröhliches Gelächter aller Winzerinnen bekommen 
wir in den Aauf. Von dem Zubel der Neckenden begleitet, wandern 
wir hin und her auf dem Berge, hier und da zwar in Gefahr, 
unsere Fußbekleidung im erweichten Boden zu verlieren, aber heiter 
angeregt durch die wechselnden Vorträge von Liedern, in denen der 
Rhein und das rheinische Leben anmutig besungen werden. 
Die freudige Stimmung während des Geschäfts der Lese herrscht
	        
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