4. Mein Nächster.
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greift in den Zaum und grüßt Herrn
Glimpfen.
40,,Herr!“ fängt er ganz erbittert an,
„mein Nachbar, der infame Mann,
der Schelm — ich will ihn zwar
nicht schimpfen —,
der, denkt nur! spricht, der schmale
Rain,
der zwischen unsern Feldern lieget,
45 der, spricht der Narr, der wäre sein.
Allein, den will ich sehn, der mich
darum betrüget!
Herr,“ fuhr er fort, „Herr, meine
beste Kuh,
sechs Scheffel Hafer noch dazu!
(Hier wieherte das Pferd vor Freu¬
den.)
50 0, dient mir wider ihn und helft die
Sach’ entscheiden!“ —
„Kein Mensch,“ versetzt Herr Glimpf,
„dient freudiger als ich.
Der Nachbar hat nichts einzuwen¬
den,
Ihr habt das größte Recht in Händen;
aus Euren Reden zeigt es sich.
55 Genug, verklagt den Ungestümen!
Ich will mich zwar nicht selber
rühmen,
dies thut kein ehrlicher Jurist;
doch dieses könnt Ihr leicht er¬
fahren,
ob ein Prozeß seit zwanzig Jahren
60von mir verloren worden ist!
Ich will Euch Eure Sache führen;
ein Wort, ein Mann! Ihr sollt sie
nicht verlieren.“ —
Glimpf reitet fort. „Herr,“ ruft ihm
Kunz noch nach,
„ich halte, was ich Euch ver¬
sprach.“ —
65 Wie hitzig wird der Streit getrieben!
Manch Ries Papier wird vollge¬
schrieben.
Das halbe Dorf muß in das Amt;
man eilt, die Zeugen abzuhören,
und fünfundzwanzig müssen schwö¬
ren,
70 und diese schwören insgesamt,
daß, wie die alte Nachricht lehrte,
der Rain ihm gar nicht zugehörte.
Ei, Kunz, das Ding geht ziemlich
schlecht!
Ich weiß zwar wenig von dem
Rechte;
75 doch im Vertraun gered’t, ich dächte,
du hättest nicht das größte Recht.
Manch widrig Urteil kommt! Doch
laßt es widrig klingen!
Glimpf muntert den Klienten auf:
„Laßt dem Prozesse seinen Lauf,
80 ich schwör’ Euch, endlich durchzu¬
dringen;
doch —“
„„Herr, ich hör’ es schon; ich will
das Geld gleich bringen.““
Kunz borgt manch Kapital. Fünf
Jahre währt der Streit.
Allein, warum so lange Zeit?
Dies, Leser, kann ich dir nicht sagen,
85 du mußt die Rechtsgelehrten fragen.
Ein letztes Urteil kommt. 0 seht
doch! Kunz gewinnt.
Er hat zwar viel dabei gelitten;
allein was thut’s, daß Haus und Hof
verstritten
und Haus und Hof schon angeschla¬
gen sind?
90 Genug, daß er den Rain gewinnt.
„0!“ ruft er, „lernt von mir den
Streit aufs höchste treiben;
ihr seht ja, Recht muß doch Recht
bleiben!“
Christ. Fürchtegott WeUert.
44. Sprichwörter von der Friedfertigkeit.
Ein magerer Vergleich ist besser als ein fetter Prozeß. — Nach¬
gehen stillt allen Krieg. — Was du nicht willst, daß man dir thu’,,
das füg’ auch keinem andern zu. — Lieber ein klein Unrecht ge-
F. Hirts Deutsches Lesebuch. Ausg. A. XI. n