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Weg, wie ihm der Doktor befohlen hatte. Den ersten Tag ging es 
so langsam, daß eine Schnecke hätte können sein Vorreiter sein, und 
wer ihn grüßte, dem dankte er nicht, und wo ein Würmlein auf der 
Erde kroch, das zertrat er. Aber schon am zweiten und dritten 
Morgen kam es ihm vor, als wenn die Vögel schon lange nimmer so 
lieblich gesungen hätten wie heute, und der Tau schien ihm so frisch 
und die Kornrosen im Felde so rot, und alle Leute, die ihm begegneten, 
sahen so freundlich aus und er auch, und alle Morgen, wenn er aus 
der Herberge ausging, war's schöner, und er ging leichter und 
munterer dahin, und als er am achtzehnten Tage in der Stadt 
des Arztes ankam und den andern Morgen aufstand, war es ihm 
so wohl, daß er sagte: „Ich hätte zu keiner ungeschickteren Zeit 
gesund können werden, als jetzt, wo ich zum Doktor soll. Wenn's 
mir doch nur ein wenig in den Ohren brauste, oder das Herz¬ 
wasser lief mir." Als er zum Doktor kam, nahm ihn der bei der 
Hand und sagte ihm: „Jetzt erzählt mir denn noch einmal von 
Grund aus, was Euch fehlt." Da sagte er: „Herr Doktor, mir 
fehlt gottlob nichts, und wenn Ihr so gesund seid, wie ich, so soll's 
mich freuen." 
4. Der Doktor sagte: „Das hat Euch ein guter Geist geraten, 
daß Ihr meinem Rate gefolgt habt. Der Lindwurm ist jetzt ab¬ 
gestanden. Aber Ihr habt noch Eier im Leibe; deswegen müßt Ihr 
wieder zu Fuße heimgehen und daheim fleißig Holz sägen und nicht 
mehr essen, als Euch der Hunger ermahnt, damit die Eier nicht aus¬ 
schlüpfen, so könnt Ihr ein alter Mann werden", und lächelte dazu. 
Aber der reiche Fremdling sagte: „Herr Doktor, Ihr seid ein feiner 
Kauz, und ich verstehe Euch wohl", und hat nachher dem Rate 
gefolgt und 87 Jahre, 4 Monate, 10 Tage gelebt, wie ein Fisch im 
Wasser so gesund, und hat alle Neujahre dem Arzte 20 Dublonen 
zum Gruße geschickt. Hebel. 
224. Vom Bäumlein, das andere Blätter hat gewollt. 
1. Es hat ein Bäumlein gestanden im Wald 
in gutem und schlechtem Wetter; 
das hat von unten bis oben nur 
Nadeln gehabt statt Blätter; 
die Nadeln — die haben gestochen; 
das Bäumlein — das hat gesprochen: 
„Alle meine Kameraden haben schöne Blätter an, 
und ich habe nur Nadeln. Niemand rührt mich an. 
Dürft’ ich wünschen, wie ich wollt’, 
wünscht’ ich mir Blätter von lauter Gold.“ 
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