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dahinter die gewaltige Stadt mit den himmelhohen, turmartigen Ge¬
bäuden, ,,Wolkenkratzer“ genannt, dazu der riesige Hafen, von Schiffen
aller Völker der Erde belebt. An der kleinen Insel Ellis Island
legten wir zuerst an. Hier werden die Zwis.chendeckpassagiere an
Hand gesetzt und auf Paß und hinreichenden Geldbesitz geprüft;
ohne beides darf keiner mehr den amerikanischen Boden betreten.
2. Midi liat’s mit tiefem Ernst erfüllt, wie ich diese Scharen
deutscher, ungarischer, russischer Auswanderer sah, die hastig über
die Landungsbrücke einer dunkeln Zukunft entgegengingen. Wie
wenige finden im großen Amerika wohl ihr Glück, und wie viele
gehen unter an Leib und Seele! Ich habe meinem Gott gedankt,
daß ich nicht aufs ungewisse die Fahrt zu machen brauchte. Von
Ellis Island fährt der Dampfer quer durch den Hafen hinüber nach
Hoboken. Unaufhörlich heulte die Dampfpfeife unsers Schiffes; mehr
als einmal schien’s, als ob wir kleinere Fahrzeuge in den Grund
bohren würden; aber sie kamen immer noch glatt vorbei. Dann ging’s
ein Stück den Hudson-B iver hinauf nach dem Anlegeplatz des Nord¬
deutschen Lloyds; das Schiff machte fest, und die Ausschiffung der
Kajütpassagiere begann. Mein Koffer war bald visitiert; ich durfte
also die Zollgrenze passieren. Vergebens schaute ich nach unserm
gemeinsamen Bekannten, dem Bankbeamten Fritsch, aus, der mir
fest versprochen hatte, mich in Hoboken in Empfang zu nehmen.
Ich wartete eine Weile; dann wagte ich mich in den Trubel der
Großstadt hinein. In Amerika ist alles riesenhaft; riesenhaft sind
die Häuser, riesenhaft der Handel, riesenhaft der Verkehr auf den
Straßen. Wir sind ja manch liebes Mal in Stuttgart die Königs¬
straße auf und ab gewandert und haben über die Menge von Wagen
und Fußgängern gestaunt. Geh eine Stunde durch die Innenstadt
von New York, und Du weißt erst, was eigentlich Großstadtverkehr
ist. Dahinein denke Dir nun den Gutsverwalter Heinrich Möller aus
Cannstatt. Ich kann Dir das Gefühl völliger Hilflosigkeit nicht be¬
schreiben, das mich überkam, als ich mir ganz allein meinen Weg
in dieser Riesenstadt suchen mußte. Freundliche Deutsche wiesen
mich nach dem Fährboot, das von Hoboken mich über den mächtigen
Hudson-River nach dem eigentlichen New York bringen sollte. Mein
bißchen Englisch, das ich von der Schule her behalten hatte, langte
kaum so weit, daß ich mir eine Fahrkarte kaufen konnte. So ging’s
also wieder zu Schiff mitten durch das Gewühl der großen und kleinen
Fahrzeuge hindurch. Dann begann die schier endlose Wanderung
nach der 55. Straße. Niemand verstand mein Englisch; Du kannst