Full text: Zweites Lesebuch für die Mittelstufe (Teil 4, [Schülerband])

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regierte. Auch hier nahm er seine Wohnung zu Deptfort bei den 
Werften und unterhielt sich fleißig mit den Arbeitern. In London 
besuchte er Uhrmacher und andere Künstler, ließ sich in der Sternkunde 
unterrichten und streifte in Gärten und Kaffeehäusern, Kirchen und 
Schauspielen, bald als Mann von Stande, bald als Matrose gekleidet, 
ohne allen Zwang umher. Einst machte ihm der König eine außer— 
ordentliche Freude, indem er die englische Flotte ein Seetreffen vorstellen 
ließ. Dieser Anblick entzückte Petern so sehr, daß er ausrief: „Ha 
fürwahr, wäre ich nicht Zar von Rußland, so möchte ich nichts lieber 
sein als ein englischer Admiral!“ Beim Abschied schenkte ihm der 
König seine Jacht) von vierundzwanzig Kanonen, auf welcher er wieder nach 
Holland überfuhrr Er nahm aus England drei Kapitäne von Kriegs— 
und fünfundzwanzig von Handelsschiffen, vierzig Leutnante, dreißig 
Lotsen, dreißig Wundärzte, zweihundertundfunfzig Kanoniere und über 
dreihundert Künstler mit. Von Holland ging er über Dresden nach 
Wien, wo er sich aufs genaueste über das österreichische Kriegswesen 
unterrichtete, und schon schickte er sich an, nach Venedig und Rom ab— 
zugehn, als eine höchst beunruhigende Nachricht von einem neuen Auf— 
stande der Strelitzen anlangte, die ihn zwang, seine weiteren Reisepläne 
aufzugeben. 
Voll Ingrimm und Wut lehrte der Zar nach Moskau zurück. 
Bei seiner Ankunft fand er die Empörer bereits besiegt, und nun be— 
gannen grausame Untersuchungen und Hinrichtungen. Mehrere Wochen 
lang dauerte das Rädern, Hängen und Enthaupten fort, denn gegen fünf— 
tausend Menschen wurden hingerichtet. Peter selbst hieb gegen hundert 
Köpfe herunter und forderte auch seine Freunde auf, ihm schlachten zu 
helfen. Obgleich man nicht entdecken konnte, ob Sophia an der Ver— 
schwörung teil hatte, so ließ Peter doch vor dem Kloster, in welchem 
sie eingekerkert war, dreißig Galgen errichten und zweihundertdreißig 
Strelitzen daran aufknüpfen. Die nächsten hingen unmittelbar vor dem 
einzigen Fenster, durch welches ihr Gefängnis Licht und Luft erhielt, 
so daß die unglückliche Fürstin bis an ihren Tod (1704) nichts als die 
modernden Gebeine der Hingerichteten vor Augen hatte. 
Nun ging Peter daran, seine neuen Einrichtungen nach dem 
Muster des übrigen Europas einzuführen. Sein erstes Geschäft war, 
das regelmäßige Heer zu vermehren. Auch wurde eine Seeschule ein— 
gerichtet und sonst für die Verbreitung von Kenntnissen gesorgt, die in 
das Kriegs-⸗ und Geschützwesen einschlagen. Auch im AÄußern sollten 
die Russen den andern europäischen Nationen gleich werden, und des— 
halb führte Peter mit Gewalt statt der langen russischen Tracht die 
deutsche Kleidung ein. Wer seinen Zorn nicht reizen wollte, mußte sich 
den Bart abscheren, und wer nicht wollte, daß ihm auf öffentlichet 
Straße der Rock abgeschnitten wurde, durfte sich nuͤr in einem kurzen 
sehen lassen. 
Es gelang dem Zaren durch seine Neuerungen, das Reich schnell 
in eine Militärmacht zu verwandeln, deren Ansehen sich bald auch nach 
) Jacht, eine Art kleiner, schnellsegelnder Schiffe.
	        
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