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vermischen, liegt die Gegend unter uns. Alles Kleinliche, Unsaubere ver¬
schwindet, die zarten Farbenunterschiede der Natur erscheinen kräftiger als
unten. Die Straßen durchziehen wie weiße, allen Hindernissen aus¬
weichende Fäden die Landschaft, während die Eisenbahnen Strichen gleichen,
die mit dem Lineal gezogen sind. Hellglänzend schlängeln sich die Bäche
und Flüsse durch lebhaft grüne Wiesen und rechtwinklig abgeteilte, je nach
der Bebauung verschieden gefärbte Felder.
3. Von Zeit zu Zeit beobachtet der Ballonführer das Barometer.
Der Zeiger geht immer weiter zurück, der Luftdruck wird immer geringer,
die Luft also dünner und unsre Höhe über dem Boden größer. Schon
ist der Ballon höher als die deutschen Mittelgebirge, da gelangt er plötz¬
lich in einen leichten Nebel. Nach wenigen Minuten ist nichts mehr von
der Erde zu sehen; statt dessen umgibt uns ein dichter, kalter Nebel.
Der Ballon ist in eine Wolke eingetreten. Tauwerk und Instrumente
triefen von Wasser; doch wir werfen Saud ans, und der Ballon steigt
höher. Schon ist das Thermometer unter 0 Grad gesunken, und bald
geht der Nebel in ein dichtes Schneegestöber über. In noch größeren
Höhen wird das Schneegestöber leichter; zarte Eiskristalle und Eisnadeln
schweben in der Luft, und man sieht zeitweilig schon mattglänzend die
Sonnenscheibe. Noch ein Sack Sand wird ausgeworfen, und der obere
Rand der Wolke ist erreicht. Grell blendend scheint die Sonne, tiefblau
wölbt sich über uns der Himmel, wie ein unendlich großes Schneefeld
liegt unter uns die Wolkendecke. Von der Erde ist nichts zu sehen und
zu hören; unheimlich, fast geisterhaft ist die Ruhe, die uns umgibt.
4. Aber nicht jeder kann ungestört diese erhabenen Eindrücke genießen.
Kraftlos, bleich und zähneklappernd, mit keuchendem Atem und blauen
Lippen sitzt ein Reisegefährte in der Ecke des Korbes; er ist „höhenkrank"
geworden. Hier oben in einer Höhe von etwa 5000 Meter ist die Luft nur
halb so dicht als unten, und die in ihr enthaltene Sauerstoffmenge ge-
niigt manchem nicht mehr zum Atmen. Wir geben dem Kranken den von
unten in großen Flaschen mitgenommenen Sauerstoff zu atmen, und er
erholt sich langsam. — Als vr. Süring und Berson im Juli 1901
die höchste bisher erreichte Höhe von 10500 Meter erstiegen hatten, wurden
beide von einer liefen Ohnmacht befallen, aus der sie erst uach längerer
Zeit erwachten, als der Ballon bereits wieder erheblich gefallen war. —
5. Die Reisenden haben inzwischen eifrig Beobachtungen angestellt
über Wärme und Feuchtigkeit der Luft, Stärke der Souueustrahlung,
Formen der Wolken. Vergeblich schaut der Ballonführer nach einer
Wolkenlücke aus, durch die er die Erde sehen kann. In unbekannter
Hirts Deutsches Lesebuch. Ansg. B. III. Neubtg. 10