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Endlich entsteht ein Stillstand in dem Strömen. Es scheint, als wären
alle während der Ebbe so rasch eilenden Flüsse in ruhige Seen verwandelt. All¬
mählich aber kommt wieder Leben und Regsamkeit in die versiegenden Gewässer.
Das Meer dringt erst leise rückwärts. Die süßen Gewässer, die aus dem
Inneren des Landes her sich einen Ausgang erringen wollen, geraten mit
ihm in Streit, aus dem an vielen Punkten mächtige Wirbel entstehen. End¬
lich siegt der Ozean. Seine Schulter hebt sich gewaltig, und er zieht sieg¬
reich zu allen Toren des Landes ein. Alle großen und kleinen Kanäle des
Landes füllen sich, und viele schwellen an bis zum Rand. Die weiten, kahlen
Sandbänke schmiegen sich wieder unter die feuchte Decke des Ozeans, zu dessen
Gebiete sie gehören. Die Fischer, Austern- und Krabbensucher, die Strand¬
spaziergänger ergreifen die Flucht und verbergen sich hinter den Dämmen
und Deichen. Die Vorlande der Inseln verschwinden wieder, und diese
selbst schmelzen auf die Hälfte ihres Gebietes zusammen. Kleine Landesteile,
die noch eben mit dem Festlande zusammenhingen, lösen sich und werden
zu Inseln. Die Hafendämme der Städte, vorher riesengroß, schrumpfen zu
fast nichts zusammen. Alle Gräben, Kanäle, alle Meeres- und Flußarme
füllen sich bis an den Rand der Deiche. Das Schiff, auf dem wir etwa fahren,
hebt sich mächtig in die Höhe, und wir schauen hinweg über die Dämme ins
Innere des tiefen und niedrigen Landes. Seichte Gräben werden selbst für
große Schiffe fahrbar. Alle Schiffe, welche die Ebbe auf den Sand setzte,
und die, schief auf die Seite geneigt, traurig dalagen, richten sich wieder em¬
por und erheben sich allmählich, wie arme Kranke, die man der frischen Luft
zurückgab. Endlich lösen sie sich völlig aus dem klebrigen Boden und schweben
beweglich und schwankend empor auf dem klaren Elemente, wie flüchtende Enten,
die vom unbequemen Festlande auf den glatten Teich sich gerettet haben. Nun
wird in allen Häfen und an allen Ufern gerüstet. Schiffe von allen Größen und
Arten spannen die Segel auf, lösen sich vom Strande und tragen ihre Reisenden
und ihre Waren von Ufer zu Ufer. Auch die großen Seefahrer, die vor den
Mündungen der Ströme den Augenblick der Fluthöhe erwarten, ziehen land¬
einwärts und schwimmen mit gebauschten Segeln in die sichern Tore des
Festlandes ein. Johann Georg Goht. (Die Reisen in den Niederlanden.)
181. Daheim.
Ein weg durch Korn und roten Klee, 2. <£s wogt dasKorn im Sonnenbrand,
darüber der Lerche Singen, darüber die Glocken schallen —
da- stille Dorf, der helle See, sei mir gegrüßt, mein deutsches Land,
süßes Wehen, frohes Klingen. du schönstes Land vor allen!
Vrin; Emil von Lchönaich-Carolath.