Full text: [Teil 3 = Sechstes - Achtes Schuljahr, [Schülerband]] (Teil 3 = Sechstes - Achtes Schuljahr, [Schülerband])

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„Vater und Mutter sind schon lange gestorben." „So redet einmal 
Deutsch mit mir, nur ein paar Worte!" Der Mann blieb stumm. 
„Da ist bös zu helfen. Wie kann ich Euch ein Zeugnis geben, daß 
Ihr ein Deutscher seid, und Ihr könnt mir das gar nicht beweisen? 
So könnte mir jeder kommen." „Gewiß, Herr Konsul, so wahr Gott 
lebt, ich bin ein Deutscher: meine Eltern sind Schwaben gewesen. 
Ich sage die reine Wahrheit." 
Der Konsul ging im Zimmer auf und ab; der junge Mann hatte 
ein ehrliches Aussehen, sprach so offen und frei, und doch —. Plötz¬ 
lich ging dem Konsul ein Gedanke durch den Kopf. Er trat vor den 
Mann hin und sagte: „Guter Freund, habt Ihr denn gar nichts aus 
Eurer Jugend behalten? Kennt Ihr nicht irgend ein Gebet, das 
Euch die Mutter gelehrt hat?" 
Jetzt hätte der Leser das Aufleuchten der Augen sehen sollen. 
„Ja, Herr," rief er aus. Wie ein kleines Kind faltete er die Hände 
und betete das Vaterunser von Anfang bis zu Ende ohne jeglichen 
Anstoß, und als er damit zu Ende war, füllten ein paar große 
Tränen seine Augen, und aus ferner Erinnerung gedachte er des 
Mütterleins, auf dessen Knieen er dieses Gebet gelernt hatte. Auch 
der Konsul war tief bewegt. Alles, was die deutsche Abstammung 
beweisen konnte, war in zwanzig Jahren verwischt; nur das erste 
Gebet war unauslöschlich eingegraben. „Lieber Landsmann," sagte 
jetzt der Konsul, „nun will ich Euch ein Zeugnis geben; denn das 
Vaterunser könnt Ihr nur von einer deutschen Mutter gelernt haben." 
Nach G. Maisch. 
<2 7. Waldlilie im Schnee. 
Hinter Salzburg tief drinnen in den Alpen liegt das kleine Dorf 
Winkelsteg. Dort wohnt der Bertold, dessen Familie von Jahr zu 
Jahr wächst und von Jahr zu Jahr weniger zu essen hat. Ist also 
ein Wilderer geworden, der Bertold. Das Holzen wirft viel zu 
wenig ab für eine Stube voll von Kindern. Für das kranke Weib 
eine kräftige Suppe, für die Kinder ein Stück Fleisch will er haben 
und schießt die Rehe nieder, die ihm des Weges kommen. Dazu tut 
die Leidenschaft das Ihre, und so ist der Bertold, der vormals 
als Hirt ein guter, lustiger Bursche gewesen, durch Armut, Trotz und 
Liebe zu den Seinigen recht sauber zum Verbrecher herangewachsen. 
Ein trüber Winterabend ist es gewesen. Die Fensterchen sind 
mit Moos vermauert; draußen fallen frische Flocken auf alten Schnee.
	        
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