Full text: [Teil 3 = Sechstes - Achtes Schuljahr, [Schülerband]] (Teil 3 = Sechstes - Achtes Schuljahr, [Schülerband])

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Unterdessen wurde die Stadt Lissabon in Portugal durch ein 
Erdbeben zerstört, und der Siebenjährige Krieg ging vorüber, und 
Amerika wurde frei, die Französische Revolution und der lange Krieg 
fing an, und die Ackerleute säeten und schnitten, der Müller mahlte, 
und die Schmiede hämmerten, und die Bergleute gruben nach den 
Metalladern in ihrer unterirdischen Werkstatt. Als aber die Berg¬ 
leute zu Falun im Jahre 1809 etwas vor oder nach Johannis zwischen 
zwei Schächten eine Öffnung durchgraben wollten, gute dreihundert 
Ellen tief unter dem Boden, gruben sie aus dem Schutt und Vitriol¬ 
wasser den Leichnam eines Jünglings heraus, der ganz mit Eisen¬ 
vitriol durchdrungen, sonst aber unverwest und unverändert war, also 
daß man seine Gesichtzüge und sein Alter noch völlig erkennen konnte, 
als wenn er erst vor einer Stunde gestorben oder ein wenig ein¬ 
geschlafen wäre bei der Arbeit. 
Als man ihn aber zu Tag ausgefördert hatte— Vater und Mutter, 
Gefreunde und Bekannte waren schon lange tot —, kein Mensch 
wollte den schlafenden Jüngling kennen oder etwas von seinem Un¬ 
glück wissen, bis die ehemalige Verlobte des Bergmanns kam, der 
eines Tages auf die Schicht gegangen war und nimmer zurückkehrte. 
Grau und zusammengeschrumpft kam sie an einer Krücke an den 
Platz und erkannte ihren Bräutigam; und mehr mit freudigem Ent¬ 
zücken als mit Schmerz sank sie auf die geliebte Leiche nieder; und 
erst als sie sich von einer langen, heftigen Bewegung des Gemüts 
erholt hatte, sagte sie endlich: „Es ist mein Verlobter, um den ich 
fünfzig Jahre lang getrauert habe und den mich Gott noch einmal 
sehen läßt vor meinem Ende. Acht Tage vor der Hochzeit ist er auf 
die Grube gegangen und nimmer gekommen." Da wurden die 
Gemüter aller Umstehenden von Wehmut und Tränen ergriffen, 
als sie sahen die ehemalige Braut jetzt in der Gestalt des hin¬ 
gewelkten, kraftlosen Alters und den Bräutigam noch in seiner 
jugendlichen Schöne und wie in ihrer Brust nach fünfzig Jahren 
die Flamme der jugendlichen Liebe noch einmal erwachte — aber 
er öffnete den Mund nimmer zum Lächeln oder die Augen zum 
Wiedererkennen — und wie sie ihn endlich von den Bergleuten 
in ihr Stüblein tragen ließ, als die einzige, die ihm angehöre 
und ein Recht an ihn habe, bis fein Grab gerüstet sei auf dem 
Kirchhofe. 
Den andern Tag, als das Grab gerüstet war auf dem Kirchhof 
und ihn die Bergleute holten, legte sie ihm das schwarzseidene Hals-
	        
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