Full text: [Teil 3 = Sechstes - Achtes Schuljahr, [Schülerband]] (Teil 3 = Sechstes - Achtes Schuljahr, [Schülerband])

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tuch mit roten Streifen um und begleitete ihn in ihrem Sonntags¬ 
gewand, als wenn es ihr Hochzeittag und nicht der Tag seiner Be¬ 
erdigung wäre. Denn als man ihn auf dem Kirchhof ins Grab legte, 
sagte sie: „Schlafe nur wohl, noch einen Tag oder zehn im kühlen 
Bett, und laß dir die Zeit nicht lang werden! Ich habe nur noch 
ein wenig zu tun und komme bald, und bald wird's wieder Tag." — 
„Was die Erde einmal wiedergegeben hat, wird sie zum zweitenmal 
auch nicht behalten," sagte sie, als sie fortging und noch einmal um¬ 
schaute. Johann Peter Hebel. 
10. Eine treue Magd. 
„Herr Doktor, kommen Sie doch geschwind zu dem Hans im 
Enslihof! Er ist von der Leiter abgestürzt und hat sich wohl den 
Arm aus der Kugel gefallen." Mit diesen Worten trat ein schlichtes 
Dorfmädchen in das Haus des Wund- und Augenarztes Johann 
Baptist Pestalozzi am „Rüdenplatz" zu Zürich. Vom Laufen war 
das Mädchen erhitzt und außer Atem. „Warte und ruhe ein wenig!" 
sagte der Arzt freundlich. „Ich komm schon mit. Ich will nur dies 
fertigmachen rmd mein Verbandzeug einpacken. Jst's dein Bruder?" 
„Ach nein!" war die Antwort. „Ich kam vorbei, als das Unglück geschah. 
Es war niemand daheim; da bin ich gleich fortgesprungen." „Brav!" 
sagte der Arzt und betrachtete mit Wohlgefallen das wackere Mädchen. 
„Einer diene dem andern, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen." 
Während sich der Arzt zur Reise rüstete, sab sich das Mädchen 
im Zimmer um. Da gewahrte es in einer Ecke ein Büblein von vier 
oder fünf Jahren; das war schwächlich an Gliedern, schwärzlich im 
Gesicht und unschön von Gestalt. Aber es schaute aus tiefen, schönen 
Augen verwundert auf das fremde Mädchen. Das stand auf, streichelte 
ihm das Haar glatt und sagte: „Liebs Büebli, komm, laß dein Wäg¬ 
lein mal schön laufen!" Das Büblein aber wich scheu zurück, fiel 
unbeholfen über die eigenen Beine und schrie nun jämmerlich. 
„Armes!" sagte das fremde Mädchen. „Komm, sei gut! So ein 
großer Bub darf nicht heulen. Die Beinli und das Nüseli sind noch 
ganz!" Damit faßte es ihn an der Hand, hob ihn auf, stillte sein 
Weinen und brachte das Spiel in Gang. „Wie heißt du denn, gutes 
Mädeli?" fragte der Knabe. „Babeli!" war die Antwort. „Ich habe 
dich lieb, Babeli!" sagte das Kind und schmiegte sich an das Mädchen. 
Der Arzt war reisefertig, gab dem Knaben die Hand und sagte: 
„Sei brav, Heiri! Fall nicht und heul nicht!" Zu dem Mädchen
	        
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