Full text: [Teil 3 = Sechstes - Achtes Schuljahr, [Schülerband]] (Teil 3 = Sechstes - Achtes Schuljahr, [Schülerband])

346 
Indien mit seinem Kastenwesen und seiner wundersamen Reli¬ 
gion, die an Alter und mannigfachem Inhalt alle andern Religionen 
weit überragt, ist ein merkwürdiges Land. Im Anfang soll es vier 
Hauptkasten gegeben haben; heutzutage läßt sich deren Zahl nicht 
mehr bestimmen, man redet von 4000 verschiedenen Kasten. Es 
gibt eine Schreiner-, Schlosser-, Maurer-, Schuhmacher-, Bauern-, 
Lehrer-, Priesterkaste usw. Die Eigentümlichkeit der verschiedenen 
Kasten besteht darin, daß der Sohn immer nur das Handwerk 
seines Vaters treiben oder dessen Beruf ergreifen soll. Ja die 
Kluft zwischen den einzelnen Kasten ist so groß, daß die An¬ 
gehörigen einer Kaste nicht mit denjenigen einer andern essen 
dürfen, daß sie mit denselben sich nicht verheiraten, daß sie ein¬ 
ander nicht berühren dürfen, ja daß schon die Luft durch die 
Nähe eines Angehörigen aus niederer Kaste verunreinigt wird und 
deshalb dieser nur auf eine Entfernung von 20 bis 60 Schritt 
nahen darf. Ein Hindu aus niederer Kaste wird es selten wagen, 
durch eine Straße zu gehen, in welcher Brahmanen, d. h. Angehörige 
der Priesterklasse, der höchsten von allen, wohnen, und solche 
werden nie das Viertel geringer Leute betreten. Ein englischer 
Schulinspektor besuchte einst eine Schule und fand zur Rechten 
des eingeborenen Lehrers einen Stock, dessen Bedeutung ihm nicht 
zweifelhaft war, zur Linken aber einen Haufen frischen Lehms, 
dessen Verwendung er sich nicht erklären konnte. Der Lehrer, 
ein Brahmane, antwortete auf die Frage des Inspektors: »Der Stock 
ist für die Söhne der Brahmanen, der Lehm für die Knaben aus 
dem Volk, nach welchen ich zur Strafe mit den Lehmkugeln werfe, 
weil ich sie nicht mit dem Stock anrühren könnte, ohne unrein 
zu werden.« — Ein anderes Beispiel: Einer meiner Christen lebte 
etwa 1 i/s Stunden von der Hauptmissionstation entfernt. Seine 
noch heidnische Tante badete eines Tages im Teich und kam dabei 
dem Ertrinken nahe. Ein Mann aus der niedersten Kaste bemerkte 
die Not dieser Frau. Er hätte gut Hilfe leisten können, durfte aber 
nicht; durch die Berührung wäre ja die Frau verunreinigt worden. 
So mußte er den Unglücksfall zuerst in ihrem Hause melden; und 
bis Hilfe von dort kam, war sie ertrunken. 
Welch ein starkes Bollwerk gegen die Missionsarbeit die Kaste 
ist, weiß niemand besser als der Missionar, der unter den Hindu 
arbeitet. Das Aufgeben der Kaste durch den Übertritt zum Christen¬ 
tum ist in manchen Fällen gleichbedeutend mit der Trennung von
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.