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klagte, ihre Tränen an Siegfried zu rächen. Falsche Boten wurden
an ihn bestellt, die einen Angriff der Sachsen meldeten. Siegfried,
der seinen Freunden stets gern diente, erbot sich alsbald, den Kampf
für sie zu bestehen. Als das Heer bereit waͤr, nahm Hagen von
Chriemhilden Abschied. Sie bat ihn, über Siegfrieds Leben in der
Schlacht zu wachen. Deshalb vertraute sie ihm, daß Siegfried an
einer Stelle zwischen den Schultern verwundbar sei, wohin ihm ein
Lindenblatt gefallen, als er sich im Blute des Drachen gebadet.
Diese Stelle zu bezeichnen, nähte sie nach Hagens Rat auf ihres
Mannes Gewand ein kleines Kreuz. Hagen freute sich der gelun⸗
genen List, und kaum war Siegfried ausgezogen, so kamen aͤndere
Boten mit Friedenskunde. Ungerne kehrte Siegfried um; statt der
Heerfahrt, sollte nun im Wasgauwalde eine Jagd auf Schweine,
Baͤren und Wisente (wilde Ochsen) gehalten werden. Mit Gunther,
Hagen und großem Jagdgefolge ritt Siegfried zu Walde. Dort
krennten sich die Jagdgesellen; vor allen gewann Siegfried das Lob,
kein Tier entrann ihm. Dann ritt er zur Feuerstätle, dort setzten
sich die Jäger zum Mahle; Speise brachten die Jäger genug, aber
die Schenken säumten. Hagen gab an, er habe gemeint, das Jagen
solle heute im Spessart sein, dorthin habe er den Wein gesandt. Doch
hier nahe sei ein kühler Brunnen. Zu diesem beredete er mit Sieg⸗
fried einen Wettlauf. Sie zogen die Kleider aus, wie zwei Panther
liefen sie durch den Klee; Siegfried, all sein Waffengerät mit sich
tragend, erreichte den Brunnen zuerst. Wie er sich zur Quelle neigte,
um zu trinken, faßte Hagen den Speer, den Siegfried an die Linde
gelehnt, und stieß ihn dem Helden durch das Kreuzeszeichen, daß sein
Blut an des Moͤrders Gewand spritzte. Siegfried springt auf, die
Speerstange ragt ihm aus der Wunde, den Schild rafft er auf, denn
Schwert und Bogen trug Hagen weg; so ereilt er den Mörder und
schlägt ihn mit dem Schilde zu Boden. Aber dem Helden weicht
Kraft und Farbe, blutend fällt er in die Blumen, die Verräter schel⸗
tend, die seine Treue so gelohnt, und Chriemhilden dem Bruder emp—
fehlend, ringt er den Todeskampf.
In der Nacht führten sie den Leichnam über den Rhein. Hagen
hieß ihn vor Chriemhildens Kammertür legen. Als man zur Messe
läutete, brachte der Kämmerer Licht, und sah den blutigen Toten, ohne
ihn zu erkennen. Er meldete es Chriemhilden, die mit ihren Frauen
zum Münster gehen wollte. Sie wußte, daß es ihr Maun sei, noch
ehe sie ihn gesehen; zur Erde sank sie und das Blut brach ihr aus
dem Munde. Bald erschallten Burg und Stadt von der Wehklage.
Am andern Morgen ward der Leichnam auf einer Bahre im Münster
aufgestellt. Da kamen Gunther und der grimme Hagen; der König
jammerte. „Räuber,“ sagte er, „haben den Helden erschlagen.“
Chriemhild hieß sie zur Bahre treten, wenn sie sich unschuldig zeigen
wollten, da blutete vor Hagen die Wunde des Toten.