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30. Das Erdöl. (Petroleum, Steinöl.)
Nur wer in seinen Erinnerungen um etwa vier Jahrzehnte zurück—
zugehen vermag, weiß den von der Vorsehung in dem Erdöl uns
geschenkten Segen vollkommen zu würdigen. Noch vor vierzig
Jahren war die Wohnstube des einfachen Bauernhauses in vielen
Gemeinden unserer Heimat während der langen Winterabende so
dürftig erleuchtet, daß das Schulkind kaum im stande war, seine
Schulaufgabe für den andern Tag zu fertigen. Um den brennenden
Holzspan herum saß, von einem Rauchschleier umhüllt, die Haus—
frau mit ihren Töchtern am Spinnrade, während der Vater oder
ein anderes männliches Mitglied der Familie damit beschäftigt war,
den Span brennend zu erhalten und den abgebrannten jeweils durch
einen neuen zu ersetzen. Viele Kosten verursachte damals diese Be—
leuchtungsart allerdings in holzreichen Gegenden nicht, zumal der
Bedarf an Spänen meist im Hause selbst gedeckt wurde. Wer erinnert
sich nicht an das Hebelsche Gedicht: „Und won i uf em Schnid—
stühl sitz für Passeltang und Liechtspön schnitz“ u. s. w. Schon
etwas vornehmer als der Span war die alte Olampel mit ihren
trüben Strahlen und mit dem übelriechenden Qualm, der Kranke
und Gesunde belästigte. „Dem Ätti setzt der Oldampf zue, mer
koͤnnte 's Ampeli use tue und d'Läden uf“, heißt es in Hebels
„Jenner.“ Die Ampel aber einmal durch die ganz vornehme Talg—
kerze zu ersetzen, dazu mußte die ärmere Bauernfamilie schon eine
besondere Veranlassung haben.
Wer aber mag heute sich mit der Talgkerze begnügen, wenn
ihm eine Erdöllampe zur Verfügung steht? Friedlich, nicht wie die
Franzosen im letzten Kriege es mit der Erdölflasche vor hatten, ist
sie vorwärts gedrungen bis in die einsamsten Gehöfte des Schwarz—
waldes und überall, selbst, wenn sie auch einmal ihre Unarten hat,
ein lieber Gast geworden, dessen Dasein über den Abend ein ge—
wisses Behagen verbreitet. Leuchtet sie doch nicht bloß zu den ge—
woöhnlichen Hantierungen, sondern auch, über die Blätter eines guten
Buches hin, in das Herz und in den Verstand des trost- und wiß—
begierigen Menschenkindes hinein. Wer möchte darum die Wichtig—
keit des im Dunkel der Erde entstandenen Erdöls für die Verschöne—
rung des Menschenlebens verkennen!
In Europa hatte man längere Zeit ein gewisses Mißtrauen
gegen das Erdöl, teils wegen seiner vermeintlichen Feuergefähr—
lchkeit und sonstiger unangenehmer Eigenschaften, teils weil man
glaubte, daß die Erdölquellen vielleicht schon nach kurzer Zeit ver—
siegen könnten, und man dann um Leuchtmaterial in Verlegen—
heit wäre.
Dieses Mißtrauen ist aber mehr und mehr geschwunden, die
Billigkeit des Petroleums schlug durch, und das Interesse an diesem
Lesebuch III.