Full text: [Teil 2 = Mittel- und Oberstufe, [Schülerband]] (Teil 2 = Mittel- und Oberstufe, [Schülerband])

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89. Der geheilte Patient. 
89. Der geheilte Patient. 
Reih Leute haben trotz ihrer gelben Vögel doch manchmal auch allerlei Lasten 
und Krankheiten auszustehen, von denen, gottlob! der arme Mann nichts 
weiß; denn es gibt Krankheiten, die nicht in der Luft stecken, sondern in den 
vollen Gläsern und Schüsseln und in den weichen Sesseln und seidenen Betten, 
wie jener reiche Amsterdamer ein Wort davon reden kann. Den ganzen Vor⸗ 
mittag saß er im Lehnstuhl und rauchte Tabak, wenn er nicht zu träge war, 
oder hatte Maulaffen feil zum Fenster hinaus, aß aber zu Mittag doch wie 
ein Drescher, und die Nachbarn sagten manchmal: „Windet's draußen, oder 
schnaufet der Nachbar so?“ — Den ganzen Nachmittag aß und trank er eben— 
falls bald etwas Kaltes, bald etwas Warmes, ohne Hunger und ohne Appetit, 
aus lauter Langeweile bis an den Abend, also, daß man bei ihm nicht recht 
sagen konnte, wo das Mittagessen aufhörte und das Nachtessen anfing. Nach 
dem Nachtessen legte er sich ins Bett und war so müd', als wenn er den 
ganzen Tag Steine abgeladen oder Holz gespalten hätte. Davon bekam er zu— 
letzt einen dicken Leib, der so unbeholfen war wie ein Maltersack. Essen und 
Schlaf wollte ihm nimmer schmecken, und er war lange Zeit, wie es manchmal 
geht, nicht recht gesund und nicht recht krank; wenn man aber ihn selber hörte, 
so hatte er 365 Krankheiten, nämlich alle Tage eine andere. Alle Ärzte, die 
in Amsterdam sind, mußten ihm raten. Er verschluckte ganze Feuereimer voll 
Mirxturen und ganze Schaufeln voll Pulver und Pillen wie Enteneier so groß, 
und man nannte ihn zuletzt scherzweise nur die zweibeinige Apotheke. Aber alle 
Arzneien halfen ihm nichts; denn er befolgte nicht, was ihm die AÄrzte befahlen, 
sondern sagte: „Donnerwetter, wofür bin ich ein reicher Mann, wenn ich leben 
soll wie ein Hund, und der Doktor will mich nicht gesund machen für mein 
Geld?“ Endlich hörte er von einem Arzte, der hundert Stunden weit weg wohnte, 
der sei so geschickt, daß die Kranken gesund würden, wenn er sie nur recht an— 
schaue, und der Tod geh' ihm aus dem Wege, wo er sich sehen lasse. Zu dem 
Arzt faßte der Mann ein Zutrauen und schrieb ihm seinen Umstand. Der Arzt 
merkte bald, was ihm fehle, nämlich nicht Arznei, sondern Mäßigkeit und Be— 
wegung, und sagte: „Wart', dich will ich bald kuriert haben!“ Deswegen 
schrieb er ihm ein Brieflein folgenden Inhalts: „Guter Freund! Ihr habt 
einen schlimmen Umstand; doch wird Euch zu helfen sein, wenn Ihr folgen 
wollt. Ihr habt ein böses Tier im Bauch, einen Lindwurm mit sieben Mäulern! 
Mit dem Lindwurm muß ich selber reden, und Ihr müßt zu mir kommen. 
Aber fürs erste, so dürft Ihr nicht fahren oder auf dem Rößlein reiten, sondern 
auf des Schuhmachers Rappen; sonst schüttelt Ihr den Lindwurm, und er beißt
	        
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