Full text: [Teil 3 = Oberstufe, [Schülerband]] (Teil 3 = Oberstufe, [Schülerband])

G νö 41 
Wie in den Lüften der Sturmwind saust, 
man weiß nicht, von wannen er kommt 
und braust, 
wie der Quell aus verborgenen Tiefen, 
so des Sängers Lied aus dem Innern schallt 
und wecket der dunkeln Gefühle Gewalt, 
die im Herzen wunderbar schliefen.“ 
6. Und der Sänger rasch in die 
Saiten fällt 
und beginnt sie mächtig zu schlagen: 
„Aufs Weidwerk hinaus ritt ein edler 
Held, 
den flüchtigen Gemsbock zu jagen, 
ihm folgte der Knapp' mit dem Jäger— 
geschoß, 
und als er auf seinem stattlichen Roß 
in eine Au' kommt geritten, 
ein Glöcklein hört er erklingen fern, 
ein Priester war's mit dem Leib des Herrn, 
voran kam der Mesner geschritten. 
7. Und der Graf zur Erde sich neiget 
hin, 
das Haupt mit Demut entblößet, 
zu verehren mit gläubigem Christensinn, 
was alle Menschen erlöset. 
Ein Bächlein aber rauschte durchs Feld, 
von des Gießbachs reißenden Fluten 
geschwellt, 
das hemmte der Wanderer Tritte. 
Und beiseit legt jener das Sakrament, 
von den Füßen zieht er die Schuhe behend, 
damit er das Bächlein durchschritte. 
8. Was schaffst du? redet der Graf 
ihn an, 
der ihn verwundert betrachtet — 
Herr, ich walle zu einem sterbenden 
Mann, 
der nach der Himmelskost schmachtet, 
und da ich mich nahe des Baches Steg, 
da hat ihn der strömende Gießbach hinweg 
im Strudel der Wellen gerissen. 
Drum daß dem Lechzenden werde sein 
Heil, 
so will ich das Wässerlein jetzt in Eil' 
durchwaten mit nackenden Füßen. 
9. Da setzt ihn der Graf auf sein 
ritterlich Pferd 
und reicht ihm die prächtigen Zäume, 
daß er labe den Kranken, der sein begehrt, 
und die heilige Pflicht nicht versäume. 
Und er selber auf seines Knappen Tier 
vergnüget noch weiter des Jagens Begier, 
der andre die Reise vollführet. Blick, 
Und am nächsten Morgen mit dankendem 
da bringt er dem Grafen sein Roß zurück, 10 
bescheiden am Zügel geführet. 
10. Nicht wolle das Gott, rief mit 
Demutsinn 
der Graf, daß zum Streiten und Jagen 
das Roß ich beschritte fürderhin, 15 
das meinen Schöpfer getragen! 
Und magst du's nicht haben zu eignem 
Gewinst, 
so bleib'es gewidmet dem göttlichen Dienst: 
Denn ich hab' es dem ja gegeben, 20 
von dem ich Ehre und irdisches Gut 
zu Lehen trage und Leib und Blut 
und Seele und Atem und Leben. 
11. So mög' auch Gott, der all- 
mächtige Hort, 26 
der das Flehen der Schwachen erhöret, 
zu Ehren Euch bringen hier und dort, 
so wie Ihr jetzt ihn geehret. 
Ihr seid ein mächtiger Graf, bekannt 
durch ritterlich Walten im Schweizerland, 30 
Euch blühen sechs liebliche Töchter. 
So mögen sie, rief er begeistert aus, 
sechs Kronen Euch bringen in Euer Haus, 
und glänzen die spätsten Geschlechter!“ 
12. Und mit sinnendem Haupt saß 35 
der Kaiser da, 
als dächt' er vergangener Zeiten, 
jetzt, da er dem Sänger ins Auge sah, 
da ergreift ihn der Worte Bedeuten. 
Die Züge des Priesters erkennt er schnell 40 
und verbirgt der Tränen stürzenden Quell 
in des Mantels purpurnen Falten. 
Und alles blickte den Kaiser an 
und erkannte den Grafen, der das getan, 
und verehrte das göttliche Walten. 45 
Schiller, Gedichte. 
99*
	        
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