Object: [Teil 5 = Kl. 3, 2 u. 1, [Schülerbd.]] (Teil 5 = Kl. 3, 2 u. 1, [Schülerbd.])

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versuchten, ihm gut zuzureden, ihn aufzurichten — alles blieb vergeblich. 
Ein dumpfes Schluchzen, ein trostloses Kopfschiitteln war seine einzige 
Antwort. 
Das ging so fort, bis endlich der Hebdomadar erschien. In jeder 
Woche führte nämlich ein Lehrer der Anstalt die Aufsicht über die Zög¬ 
linge während der Arbeit und Freistunden, und weil wir eine höchst ge¬ 
lehrte Gesellschaft im Pädagogium waren, so wurde dieser Lehrer nach 
griechischer Bezeichnungsart der Hebdomadar genannt. 
In dieser Woche nun war es der alte Professor Daniel, dem die 
Aufsicht oblag — ein großer, dicker, unendlich gütiger, wohlwollender 
Mann. 
Der Lärnl und das Geschrei hatten ihn aufmerksam gemacht, als er 
in dem entfernteren Teile des Gartens für sich hinspazierte, und so kam 
er denn nun so rasch, als er seinen schweren Körper zu tragen vermochte, 
auf den Turnplatz zu uns heran. 
Ohne lange zu fragen, trat er sogleich zu dem Jungen, der noch 
immer über den Schwebebaum gebeugt lag; mit seiner breiten, fleischigen 
Hand liebkoste er ihm den Kopf und das verwirrte Haar. 
„Na, Möpschen? Na, Möpschen? Was hat man dir denn getan?" 
Als der Kleine die freundliche Stimme des alten Lehrers vernahm, 
richtete er sich langsam auf. Das Gesicht aber behielt er zur Erde gesenkt. 
Es war ganz rot verweint, und das Schlucken und Schluchzen wollte 
nicht aufhören. 
„Gebt ihm doch seinen Überzieher wieder an!" gebot der alte Daniel. 
„Warum hast du ihn denn ausgezogen? Bei der Kälte?" forschte er, zu 
dem Knaben niedergebeugt. 
Möpschen blieb stumm. 
„Er ist auf dem Schwebebaum entlang gelaufen," antworteten zwei, 
drei von den andern an seiner Statt. 
„Euch habe ich ja nicht gefragt," versetzte der Lehrer. „Möpschen 
svll's mir sagen; warum bist du denn auf den Schwebebaum gestiegen? 
Willst du es mir nicht sagen?" 
Er wollte schon, man sah es ihm an. 
Aber er konnte nicht. Es war, als wenn eine unaussprechliche 
Scham ihn niederdrückte und zu sprechen verhinderte. 
Aus der Tasche seines Überziehers, den wir ihm wieder angezogen 
hatten, holte er ein kleines, weißes Taschentuch hervor, damit wischte er 
sich die Tränen aus den Augen und den Sand vom Gesicht, der vom 
Schwebebaum daran kleben geblieben war. 
Der alte Daniel verlor nicht die Geduld. Er hatte ein gutes und 
kluges Herz; er mochte ahnen, daß in der kleinen Seele dort die heilige 
Keuschheit eines großen Leides war, das sich vor rohen, neugierigen 
Augen zu verbergen strebte.
	        
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