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begrüßte. Frau Adelheid saß so voll schöner Lieder wie ein
Kirschbaum im Juni voll Kirschen, und dazu konnte sie aller¬
bebst erzählen.
Einmal, so erzählte sie, hätte sie sich besuchsweise einige
Tage in der großen Stadt aufgehalten und sich allda wacker
umgeschaut; aber so prachtvoll es da auch gewesen wäre, 's
hätt’ ihr doch in der Stadt nimmer und nimmer gefallen wol¬
len. Nein, ganz und gar nicht! Heim, wieder heim in meine
bebe Alb, in mein liebes trautes Dorf! hätt’s immer in ihr ge-
rufen, denn da wär’s doch am „aller- allerschönscht“. „Da kennt
einer den andern,“ fuhr sie fort, „da weiß jedermann, wer’s
Adele ist, und was sie hat, und schon von weitem ruft man
ihr zu: „Grüeß Gott, Adele! Geht’s dir au guet ?“ Oder:
»Host au guet g’schlofe ?" Und ebenso kennt’s Adele all und
jeden und weiß, wer der ist, und was er ist, und was er hat,
und sie geht an keinem vorbei, ohne daß ein fröhlich oder
ernstes Plauderwort miteinander getauscht wird. In der Stadt
über hasten sie alle aneinander vorüber wie die Tiere, und
keiner kennt den andern, und keiner grüßt den andern, und
wenn sie sich aus Versehen anrennen auf der Straße, so sagen
sie bloß: „Ho, hopsa!“ und hasten weiter.
Auf dem Dorfe hat man vor allem sein liebes eigenes
Häuschen, und wenn’s auch nur klein ist und nur wenig dazu¬
gehört, ’s ist doch ein wahres Paradies gegen die kleine Miet¬
wohnung in der Stadt, im vierten Stock oder im Keller unter
bem Riesenhause.“ So plauderte sie immerfort. Und es ließe
sich überhaupt nickt sagen, wie schön es im heimatlichen Dorfe
wär’, sie tausche es mit keiner Stadt der Welt, und wenn auch
einer käme und ihr eine ganze Stadt zum Geschenk machen
Wolle. Nein, sie tät’s nimmer.
Ein merkwürdiges Wort, ja, ein ganz unvergeßliches Wort
sprach Frau Adelheid, als wir an einem jungen „Mädle“ vor¬
überkamen, das auf grüner Kornbreite krautete. Unsere Füh-
rerin redete es fröhlich an und fragte, ob das Kraut gut wäre,
und ob’s auch mit’m Mütterle gut ständ’. Und das Mädchen
gub, halb aufgerichtet, mit heller, klarer Stimme Bescheid. Es
stand leider zu weit ab vom Wege, man konnte ihm nicht näher
ins Gesicht sehen, aber man merkte, daß es ein bescheidenes,
freundliches Wesen hatte. „Des ischt die Fürnehmscht im Dorf!“
sagte Frau Adelheid in ihrer treuherzigen Mundart, als wir
weitergingen. „Das ist die Vornehmste im Dorfe?“ wieder¬
holte ich im erstaunten Frageton und sah mich rasch noch ein-
Lesebuch für Oberklassen D. 6