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232. Offnet eure Herzen!
Wenn in ihres Lebens Lenze
Aus dem trauten Vaterhaus
Kinder früh mit schwerem Herzen
Ziehen in die Welt hinaus:
O verschließt da eure Türen,
kEure Herzen ihnen nicht,
Denkt, daß ihrer Tränen jede
kEuch von fernen Lieben spicht!
Sie auch waren frische Rosen
In der Kindheit Paradies,
Bis des Elends schwarzes Scepter
Hart sie aus dem Eden wies,
Bis am Himmel ihres Lebens
Eine dunkle Wolke stand
Und sie weit hinweggerissen
Von der Mutter Haus und Hand.
Arm und fremd, so fern der Heimat,
Trauernd in der Freud'gen Reihn,
Stehn sie ohne Lieb' und Freundschaft
Unter allen ganz allein;
Denken wohl der fernen Lieben,
Denken an vergangnes Glück
Schmerzlich zuckt bei euerm Jubel
Trän' um Trän' im stummen Blick.
Und was ist's, das sie beweinen?
Nicht des Reichtums Herrlichkeit,
Nicht der Feste lautes Rauschen,
Nicht des Glückes flimmernd Kleid!
Nach der Heimat zieht ihr Sehnen
Zu den fernen Lieben fort —
Blieb doch ihres Herzens Leben,
Ihrer Liebe Fülle dort!
Liebe ist's, die sie beweinen!
O, so öffnet Mund und Herz,
Laßt sie euch vertrauen dürfen,
Still ausweinen ihren Schmerz!
Glaubt es, nichts macht treusre Herzen,
Als wenn ihr mit zarter Hand
Innig dieser Kinder sorget,
Die da fremd im fremden Land!
233. Bei den Aussäützigen.
Aus den Papieren einer Heimgegangenen.
Wenn ich in den Tagen meiner Kindheit etwas über die schreckliche
Krankheit des Aussatzes las, sei es in der Bibel oder in einer Geschichte
des Mittelalters, so wurde mir zur Erklärung gesagt, es gäbe jetzt
eigentlich keine Aussätzigen mehr, vereinzelte Fälle im Süden Europas
und in heißen Gegenden anderer Weltteile ausgenommen. Gott sei
Dank die jammervollen Leiden jener armen Kranken, die von der übrigen
Menschheit abgeschieden, hoffnungslos dahinsiechen mußten, denen viel—
fach schon ihre Leichenfeier bei lebendigem Leibe gehalten wurde, und
die danach bei jeder zufälligen Begegnung mit Gesunden in der Ferne
stehen bleiben und: unrein, unrein! rufen mußten, damit man ihnen
auswich — nein, alles dies gehöre der Vergangenheit an, und die
Krankheit des Aussatzes sei als ausgestorben zu betrachten. So dachten
wahrscheinlich damals die meisten; seitdem aber hat man nicht nur große
Fortschritte gemacht in der Erforschung fremder Länden und Völker, man
hat sich auch weit eingehender als früher mit den Gesundheitszuständen
derschiedener Nationen und der Geschichte ihrer Krankheiten beschäftigt,
und man macht jetzt unendlich viel mehr Reisen als in früheren Zeiten,
über Land und Meer, von einem Weltteil zum andern. So ist uns
nach und näch bessere Belehrung geworden über mancherlei Dinge; auch