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121. Die Elker und ihre Kinder. von auibeim enmm.
Tierfabeln bei den Meistersängern. Berlin 1856. S. 14.
eine Elster führte ihre Kinder aufs Feld, damit sie lernen möchten,
selbst ihre Nahrung zu suchen. Das gefiel ihnen aber nicht. „Wir
wollen lieber ins Nest zurück," riefen sie, „da haben wir's bequemer;
denn du, liebe Mutter, trägst uns die Speise im Schnabel herbei!" Doch
die Alte erwiderte: „Meine Kinder, ihr seid groß genug, euch selbst zu
ernähren; meine Mutter hat mich viel früher ausgewiesen." „Aber
die Bogenschützen werden uns töten," antworteten die Kinder. — „Nein,
nein," sprach sie, „es gehört Zeit zum Zielen; wenn ihr seht, daß sie
die Armbrust in die Höhe heben und an das Gesicht legen, um ab¬
zudrücken, so fliegt davon."
„Das wollten wir wohl tun," wandten die Kinder wieder ein; „aber
wenn einer einen Stein nimmt und nach uns werfen will, so ist dazu
kein Zielen nötig, wie dann?" — „Ihr könnt ja sehen, wie er sich bückt,"
sagte die Alte, „wenn er den Stein aufheben will."
„Aber wie, wenn er einen Stein beständig in der Hand trägt und
jeden Augenblick zum Schlendern bereit ist?" •— „Ei, was ihr nicht alles
wißt!" sprach die Mutter; „ihr könnt schon selbst für euch sorgen."
Damit flog sie weg und ließ sie allein.
122. Dlfc ißoosroie. Von fricdricb Krummacbcr.
Parabeln. I. Bändchen. Duisburg 1814. 8. 19.
Engel, der die Blumen verpflegt und in stiller Nacht den Tau
^J darauf träufelt, schlummerte an einem Frühlingstag im Schatten
eines Rofenstrauches. Und als er erwachte, da sprach er mit freundlichem
Antlitz: „Lieblichstes meiner Kinder, ich danke dir für deinen erquickenden
Wohlgeruch und für deinen kühlenden Schatten. Könntest du dir noch
etwas erbitten, wie gern würd' ich es dir gewähren!" — „So schmücke
mich mit einem neuen Reize!" — flehte darauf der Geist des Rosen¬
strauches. Und der Blumenengel schmückte die Königin der Blumen mit
einfachem Moose. Lieblich stand sie da in bescheidenem Schmuck, die
Moosrose, die schönste ihres Geschlechts.
123. Der zornmütige Einkedter. Von Heinrich Caspari.
Geistliches und Weltliches. 5. Auflage. Erlangen 1858. 8. 439.
Qf^or alters lebte ein Mann, der war sehr aufbrausend und schnell
zum Zorn, und wenn er zornig gewesen, gereute es ihn wieder.
Da dachte er: „Das kommt von den bösen Menschen, ließen mich die in
Frieden, würd' ich auch wohl sanftmütig sein. Ich will lieber fortgehen