Full text: [Teil 2 = Oberstufe, [Schülerband]] (Teil 2 = Oberstufe, [Schülerband])

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einander, sondern in ziemlich breiten Säulen. Das Wunderbarste an den 
Zügen der Störche ist aber die Eigentümlichkeit, daß sie nicht wie andere Zugvögel 
das ganze Jahr hindurch wandern und von einem Orte znm andern ziehen, wo 
sie Nahrung und zusagende Wärme finden, sondern daß sie zwei regelmäßig feste 
Wohnsitze haben, den einen im Norden, bei uns, den andern im Süden, an 
der ägyptischen Küste, und ihre Züge schnurstracks und regelmäßig von der 
einen Heimat nach der andern gehen, um an jedem dieser Orte eine bestimmte 
Zeit zuzubringen. 
Das Auffallende beim Wandertriebe des Storches liegt darin, daß er 
regelmäßig seine vorjährige Heimat wieder auffindet und sein Nest, das er 
einmal aufgebaut, wieder ausbessert und bewohnt. Der Storch, der auf einer 
Dorfscheune, auf dem Giebel eines Bauernhauses sein Nest aufgeschlagen, kommt 
aus Afrika, einen Weg von tausend Meilen her, fliegt über viele Tausende 
von Städten und Dörfern weg und kommt, ohne zu irren, geradeswegs auf seine 
Heimat zu und nimmt sie wieder in Anspruch. 
Der beste Erdkundige der Welt, mit den besten Landkarten versehen, vermöchte 
sich nicht so leicht zurechtzufinden. Der Seefahrer muß den Stand der Sonne 
mit dem Gange seiner sorgfältig gearbeiteten Schiffsuhr vergleichen und ist oft 
auf Meilen weit unsicher über den Ort, wo er sich augenblicklich befindet, und 
solch ein Tier durchzieht die Luft mit unglaublicher Schnelligkeit, eilt durch 
dieses stürmischere Meer hoch über den Wolken dahin, die ihm sogar den Anblick 
der Erde entziehen, und irrt nicht und findet seinen Weg just zu dem Dachgiebel, 
wo es vor einem halben Jahre gehaust hat! 
Hier waltet ein Trieb ob, der um so unbegreiflicher ist, als er weder 
mit der Erhaltung, noch mit der Fortpflanzung, noch mit der Ernährung des 
Tieres in unmittelbarem Zusammenhange steht; denn die Notwendigkeit, dasselbe 
Nest als sein alleiniges Eigentum, sein ganzes Leben lang zu bewohnen, wo 
auf dem Wege viel tausend solcher Nester da sind, deutet auf einen Trieb nach 
Besitz hin, welchen hier die Natur selber geheiligt zu haben scheint. Nur äußerst 
selten findet sich ein fremder Storch in einem fremden Neste ein, und wahrscheinlich 
nur, wenn sein eigenes durch Unglück oder durch Mutwillen während seiner 
Abwesenheit zerstört worden ist; aber wenn der wirkliche Eigentümer dazukommt, 
so entsteht ein Kampf zwischen den Störchen um den Besitz, der nur mit der 
Flucht des Eindringlings oder dem Tode des einen der Kämpfenden endet. Man 
hat noch nie bemerkt, daß der rechtliche Eigentümer geflohen sei, wenn auch der 
Eindringling weit stärker war; lieber läßt er sich töten, als daß er sein Recht 
aufgiebt. Der Eindringling dagegen hat das Gefühl des Rechtes nicht und 
ergreift die Flucht, wenn er einen Besitzer findet, der ihn bewältigen kann. 
Wir können bei dieser Gelegenheit eine Eigentümlichkeit, die bei der Wanderung 
der Störche beobachtet worden ist, nicht unerwähnt lassen, obwohl diese noch 
völlig unerklärt ist, und man keinen Begriff davon hat, was eigentlich da 
vorgeht.
	        
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