II.
1. Jung Siegfrieds erste Ausfahrt
und Gewinnung des Nibelungenhortes.
Im Königsschlosse zu Xanten am Niederrhein herrschte ruhm—
reich Uönig Siegmund mit seiner schönen Gemahlin Siegelind. Der
König gehörte dem Heldengeschlechte der Wölsungen an, das von
Wodan, dem höchsten Asen, abstammte. Ein Sohn erwuchs dem
Königspaare, der hieß Siegfried und war ein Bild strahlender Schön⸗
heit. Mit seinem goldenen Haar und den großen, sonnenhaft
glänzenden Augen gemahnte er an Baldur, den weißen Gott des
Lichts. An Stärke und Kühnheit aber war er mit Thor, dem ge—
waltigen Donnergotte und Riesenbezwinger, zu vergleichen. Sein
junges Herz kannte keine Furcht. Mit den stärksten Recken an seines
Vaters Hofe wagte er den Speerkampf, und nicht selten warf er
narbengeschmückte Kämpen vom Rosse kopfüber in den Sand. Bald
fand er kein Genüge mehr am friedlichen Waffenspiel. Sein Sinn
war auf reckenwürdige Abenteuer gerichtet. Mit Riesen und Drachen
begehrte er zu streiten, und eines Tages sprach er zu seinem Vater:
„Mein herz dürstet nach großen Taten, von welchen die Skalden—
lieder an Königshöfen erklingen. Gib mir Urlaub und laß mich hinaus⸗
ziehen, mein Vaterl“
Die Worte hörte auch seine Mutter, Frau Siegelind. Sie legte
ihre Hand dem Könige auf den Arm, damit er schweige, und sprach
zu Jung Siegfried:
„Du bist noch nicht flügge, junger Königsaar. Bleibe noch im
sichern Horst, denn draußen lauern allerorten Gefahren auf dich:
grimme Recken, Räuberbrut, Riesen und Drachen.“
„Ich fürchte sie nicht,“ erwiderte Jung Siegfried mit blitzenden
Augen. Und da er nicht abließ zu bitten, ward ihm endlich der