Die Ursachen, der Verlauf und die Folgen der französischen Revolution 171
ihren Urgrund herauszufinden. Die materialistische Geschichtsauffassung
wird auch hier wieder in erster Linie auf die Wirtschaft!ich-soziale
Notlage der Zeit hinweisen und scheint hier mehr, denn je, ein Recht
dazu zu haben, ist doch die ganze geistige Bewegung der damaligen Zeit
zu einem Teil von falschen und zerrütteten sozialen Verhältnissen ver-
ursacht worden. Aber diese sittlichen und sozialen Zustände sind doch
schließlich nur ein Anknüpfungs-, Beweis- und Stützpunkt für eine anders-
woher stammende Lehre in der geistigen Zeitströmung, in der Rousseau-
schen Philosophie vor allem gewesen. Die geistige Bewegung, die uns in
erster Linie die Ursache der französischen Revolution gewesen zu sein
scheint, die Aufklärung, entstammt einem anderen Boden, entstammt dem
entfesselten Naturtriebe philosophischen Denkens. Wir fragen darum zu-
nächst, welche Idee, welche geistige Bewegung sich in jener großen
Umsturzbewegung als schöpferisch erwiesen hat, und lenken dann unseren
Blick auf politische und soziale Notstände, die jener geistigen Be-
wegung zu Hilfe gekommen sind. Sodann gilt es zu untersuchen, welche
Wirkungen jene Gedanken, hineingeworfen in den Strudel der geschichtlichen
Entwicklung, gezeitigt haben, wie an die Stelle der freien Persönlichkeit
alsbald die einsichts- und zuchtlose, blindwütende Masse tritt, wie die Frei-
heit in Zügellosigkeit verkehrt wird, bis endlich aus dem Chaos der eiserne
Tyrann emportaucht, der eine des Taumels müde Welt unter sein Joch
beugt. Mit dem Auftreten Napoleons schließt die Revolution als solche
ab; aber die Fragen und Probleme, die sie aufgerollt, die Bestrebungen,
die in ihr wirksam gewesen sind, dauern fort, hinein bis in unser Jahr-
hundert, so daß wir nach jenem Blick auf den Verlauf der Revolutions-
bewegung auch noch ihre Folgen kennzeichnen müssen.
II. Die Ursachen der französischen Revolution.
1. Die Aufklärung — ein Kampf um die Freiheit der Persönlichkeit.
Hinter uns liegt das Zeitalter des Absolutismus, jener Zeit, da in
der königlichen Hand jegliche Autorität, alle Machtfülle sich vereinte, da
der Untertan nur ein Teil der großen, willenlosen Masse, bestimmt zum
Gehorchen, war, da jegliche Individualität in ihm erstickt war. Wohl
hatte der „aufgeklärte Absolutismus" eines Friedrichs des Großen mit
seinem Grundsatz: „Alles für das Volk" die Segnungen auch dieser
Staatsform zum Ausdruck gebracht; doch auch in ihm liegt die Beengung;
wenn auch alles für das Volk, so doch nichts durch das Volk. Das
preußische Volk freilich empfand diese Bevormundung nicht in dem Maße,
wie sie unter dem furchtbaren Druck des vierzehnten Ludwig in Frankreich
empfunden werden mußte. Je furchtbarer aber der Zwang, desto stärker