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hoch kn die Lüfte mit eisiger Kuppe emporragen. Hat man bei Scanfs>
welches mir als Geburtsort eines meiner liebsten Lehrer, des berühmten
Pariser Arztes B i e tt interessant ist, das Ober-Engadin betreten, so ändert
sich sogleich die ganze Physiognomie des Thals. Verschwunden sind die
grausen Schluchten, auf welchen die einzelnen Plateaux wie liebliche Oasen
liegen. Man betritt ein hohes lichtes Thal, dessen einzelne Gebiete wohl
noch durch gelinde Bodenanschwellungen in der Form von Querdämmen
gesondert sind. Im großen Ganzen aber bildet das Ober-Engadin ein
ungleich mehr zusammenhängendes Thal. Im Wiesengebiete von Scanfs
bis Celerina hat man zwar noch nicht die schöne Natur, welche nur
größere Wassergebiete einer Landschaft, selbst in den Alpen, zu verleihen
vermögen. Aber bereits genießt man mit heiterem unermüdetem Blicke
den herrlichen Anblick der höheren Alpenwelt. Ein mild in der Sonne
erglänzendes Silberband gleitet durch das Thal, der junge Inn. Zahl¬
reiche schöne und große Dörfer sind umgeben vom frischen kräftigen Grün
der Wiesen. Man hört aus der Ferne das harmonische Läuten derKirch-
glocken. Die Straßen sind belebt von dem zur rüstigen Arbeit schreitenden
Landmanne mit seinen kräftigen Zugthieren, von dem durchziehenden Ty-
roler mit dem Spitzhute, von dem im malerischen Costüme dahinschreitenden
ernsten Bergamasker Schafhirten, von dem entzückten in der reinen Berg¬
luft alle jene Zierden der Natur tief fühlenden Wanderer ferner Länder.
Soweit das Auge reicht, schließen die Wiesen des Thals hohe Gräte mit
Firn bedeckt, schlanke Pyramiden mit ewigem Schnee ein. Zwischen den
Alpenweiden mit den kleinen Sennhütten, zwischen dem dunklen Walde,
welcher an das Thalgebiet streift, drängen sich Gletschermassen an manchen
Orten soweit in's Thal herab, daß sie von lieblichen Triften umgeben wie
ein Gruß des hohen Nordens an den warmen blüthenreichen Süden, ihre
hellblauen Krystallpyramiden, durch tiefe Furchen getrennt, in starrer Eis¬
masse entfalten. Und über die ewigen Gletscher, über die prangende Flur,
über den schattigen Wald wölbt sich ein so tief dunkelblauer Himmel,
wie wir ihn im Norden uns kaum denken können.
Schreiten wir nun rasch nach unserem zweiten längeren Aufenthalte,
nach St. Moritz, zu; lassen wir die schönen Seitenthäler unbeachtet, so
gelangen wir durch Zuz, Ponte — wo der Albula-Paß mündet — und
Bevers zuerst nach Samaden, diesem Mittelpunkte des ganzen Ober-Enga-
diner Lebens und Verkehrs.
Hier ist die größte Thalweite. In dem reichen Flecken sieht man
neben den schönen Wohnhäusern der aus der Fremde heimgekehrten Enga-
diner auch die alt berühmten Wohnungen der Männer, welche von Jahr¬
hundert zu Jahrhundert die Geschichte des grauen Bundes mit hoher Ehr¬
furcht nennt. Die Familienwappen verlieren sich hier nicht farblos auf
der grauen Mauer des Burgthores, sondern schweben in graciöser Eleganz
an den feinen eisernen Ballonen. Im Innern findet man neben vielen