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Kirchhofs: Wie Notionen entstehen. 
Mittelalters. Auf der vierten Stufe endlich wird das System der viel- 
zweigigen Wohlfahrtsverwaltung ausgebildet: Armenpflege, Sanitäts-, Unter¬ 
richts-, Landeskultur-, Gewerbe-, Verkehrsverwaltung. Vielfach trat hier der 
Staat als Erbe der Kirche ein, zu der er schon im Mittelalter durch die 
Schirmvogtei in enge Beziehungen gekommen war. 
Faßt man die beiden ersten und die beiden letzten Formen zusammen, 
so erhält man als die zwei großen Stufen der Gemeinschaftsbildung die 
gentilizifche und die politische. Die erste ruht auf der Einheit der Ab¬ 
stammung, die andere auf der Einheit des Territoriums; dort ist Blut¬ 
verwandtschaft, hier Besitz das formgebende Prinzip, dort Familien, Sippen, 
Stämme, hier Dörfer, Gemeinden, Landschaften, dort natürliche und wesent¬ 
liche Beziehungen, hier künstliche und durch Gesetz gemachte, dort Religion 
und Sitte, als substantieller Wille der Gesamtheit das ganze Leben um¬ 
fassend und innerlich bestimmend, hier Recht, durch vernünftige Willkür 
gebildet, das Leben äußerlich regelud und individueller Freiheit daneben 
Spielraum lassend. 
12. Wie Nationen entstehen. 
Von Alfred Kirchhofs. Aus der Wiener „Deutschen Zeitung". 1893. 
Der Begriff Nation ist eine Geburt der Neuzeit; in unserem Jahr¬ 
hundert erst kam das Wort in aller Leute Mund, ward es zum Schlag¬ 
worte der politischen Parteien, diente als Alarmsignal für blutige Feldzüge 
und schwebt uns selbst alltäglich auf den Lippen, wenn wir von der Macht 
und Größe, von den Gesamtinteressen des im Deutschen Reiche vereinten 
Volkes reden. 
Gleichwohl würde keinem leicht fallen, eine klare, bündige Antwort auf 
die Frage zu geben, was er unter Nation eigentlich verstehe, ob und inwie¬ 
weit der Begriff gleichbedeutend sei mit dem unbestimmteren Begriffe Volk? 
Schlagen wir den einzig richtigen Weg ein, Vorhandenes zu erklären, 
untersuchen wir sein Werden, so wird uns eine kurze Betrachtung zu¬ 
vörderst von zwei weit verbreiteten Irrtümern befreien, welche den Begriff 
Nation trüben. Da heißt es: Zu einer Nation gehören alle, die eine und 
dieselbe Sprache reden. In der Tat verfahren auch nach diesem Schema 
zumeist unsere Statistiker bei den Volkszählungen, weil kein anderes Merk¬ 
mal so leicht, so sicher und so allgemein festzustellen ist wie das der Um¬ 
gangssprache. Aber ist die Sprache nicht ein sehr wandelbares Ding? Die 
Nachkommen der Tausende von französischen Flüchtlingen, welche vor etwa 
zweihundert Jahren unter uns so segensreiche Aufnahme fanden, reden genau 
das nämliche Deutsch, das in der ihnen zur neuen Heimat gewordenen Land¬ 
schaft gehört wird. In den sprachlich gemischten Gegenden Oberschlesiens,
	        
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