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VI. Bilder aus der Erdkunde,
Mit glänzendem Gefolge kam Siegfried vor der Königsburg in
Worms an. Hagen von Tronje, der erfahrenste von Günthers
Recken, erkannte ihn und wußte von seinen Abenteuern zu erzählen.
Deshalb wurde der Königssohn ehrenvoll aufgenommen und weilte als
geehrter Gast am Hofe Günthers. Aber ein Jahr verging, ohne daß er
Kriemhilden sah. Erst bei Gelegenheit eines Siegessestes, das in Worms
veranstaltet wurde, nachdem Günther mit Siegfrieds Hilfe die Könige
der Sachsen und Dänen besiegt hatte, schaute er die wunderherrliche
Maid zum ersten Mal; und als sie nach der Messe ihm hold grüßend
ihren Dank bekundete, sprach er die bedeutungsvollen Worte: „Das ist,
holdselige Jungfrau, zu Euerm Dienst getan." In edler Bescheidenheit
zögerte er noch immer damit, seine Werbung auszusprechen; — doch die
Liebe wob leis' ihr Zauberband.
Nach einiger Zeit beschloß König Günther, übers Meer nach Jsen-
land (Island) zu fahren und dort um die schöne Königin Brunhild
zu werben. Brunhild aber war von ungewöhnlicher Kraft und wollte
sich nur dem verloben, der sie im Speerwerfen, Steinwurf und Wett¬
sprung besiege. Siegfried warnte Günther vor dem gefährlichen Unter¬
nehmen; doch zuletzt war er bereit, ihm im Kampfe beizustehen, wenn
Günther ihm die schöne Kriemhild zur Gattin gäbe. Gern willigte der
König ein. Von Hagen und Dankwart begleitet fuhren Günther und
Siegfried den Rhein abwärts ins Meer und landeten nach zwölf Tagen
bei der Feste Jsenstein. Als die Königin Brunhild dem herrlichen Sieg¬
fried vor den andern den ersten Gruß entbot, sprach er sie täuschend:
„Nicht also, edle Königin; meinem Herrn, König Günther, gebührt der
erste Gruß; ich aber bin nur sein Dienstmann." Bald begann
das Kampfspiel. Siegfried, der sich durch die Tarnkappe unsichtbar ge¬
macht hatte, stand Günther im Kampfe bei, und so wurde die Helden-
jungfrau besiegt. Alle fuhren hierauf — Brunhild mit ihnen — nach
dem Burgundenlande zurück, wo in Worms die Doppelhochzeit gefeiert
wurde. Aber wie froh König Günther auch war, aus Brunhildens Augen
brachen Tränen, dieweil ihr Gemahl seine Schwester einem Dienstmann
verlobt habe. Günther offenbarte ihr das Geheimnis nicht. Die Saat
der Lüge, mit der Günther und Siegfried Brunhild gewonnen hatten,
begann zu keimen.
Nach dem Feste zog Siegfried mit seiner Gattin Kriemhild heim
nach Tanten, wo ihm alsbald sein alternder Vater Siegmund die Herr¬
schaft übergab.
Nach zehn Jahren folgten zur altgeheiligten Zeit der Sonnenwende
Siegfried und Kriemhild einer Einladung ihrer Verwandten nach Worms.
Schon waren zehn Tage des Festes in Frohsinn verflossen, da entspann