Full text: Deutsches Lesebuch für höhere Lehranstalten, nebst einem Abriß der Poetik und Litteraturgeschichte

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40. Der Knabe und die Schlange. 
Gotthold Ephraim Lesfing. 
Ein Knabe spielte mit einer zahmen Schlange. „Mein liebes Tierchen," 
sagte der Knabe, „ich würde mich mit dir so gemein nicht machen, wenn dir 
das Gift nicht benvlnmen wäre. Ihr Schlangen seid die boshaftesten, undank¬ 
barsten Geschöpfe! Ich habe es wohl gelesen, wie es einem armen Landmann 
ging, der eine, vielleicht von deinen Ureltern, die er halb erfroren unter einer 
Hecke fand, mitleidig aufhob und sie in seinen erwärmenden Busen steckte. 
Kaum fühlte sich die Böse wieder, als sie ihren Wohlthäter biß; und der gute, 
freundliche Mann mußte sterben." 
„Ich erstaune," sagte die Schlange. „Wie parteiisch eure Geschichtschreiber 
sein müssen! Die unsrigen erzählen diese Historie ganz anders. Dein freund¬ 
licher Mann glaubte, die Schlange sei wirklich erfroren, und weil es eine 
von den bunten Schlangen war, so steckte er sie zu sich, ihr die schöne Haut 
abzustreifen. War das recht?" 
„Ach, schweig nur!" erwiderte der Knabe. „Welcher Undankbare hätte sich 
nicht zu entschuldigen gewußt!" 
„Recht, mein Sohn!" fiel der Bater, der dieser Unterredung zugehört 
hatte, dem Knaben ins Wort. „Aber gleichwohl, wenn du einmal von einem 
außerordentlichen Undanke hören solltest, so untersuche ja alle Umstände genau, 
bevor du einen Menschen mit so einem abscheulichen Schandflecke brandmarken 
lässest. Wahre Wohlthäter haben selten Undankbare verpflichtet; ja, ich will 
zur Ehre der Menschheit hoffen — niemals. Aber die Wohlthäter mit kleinen, 
eigennützigen Absichten, die sind es wert, mein Sohn, daß sie Undank anstatt 
Erkenntlichkeit einwuchern." 
41. Der Rangstreit der Tiere. 
Botthoid Ephraim Lessing. 
1. 
Es entstand ein hitziger Rangstreit unter den Tieren. Ihn zu schlichten, 
sprach das Pferd: „Lasset uns den Menschen zu Rate ziehe»; er ist keiner von 
den streitenden Teilen und kann desto unparteiischer sein." 
„Aber hat er auch den Verstand dazu?" ließ sich ein Maulwurf hören. 
„Er braucht wirklich den allerfeinsten, unsere oft tief versteckten Vollkommenheiten 
zu erkennen." 
„Das war sehr weislich erinnert!" sprach der Hamster. 
„Ja wohl!" rief auch der Igel. „Ich glaube es nimmermehr, daß der 
Mensch Scharfsinnigkeit genug besitzt." 
„Schweigt ihr!" befahl das Pferd. „Wir wissen es schon: Wer sich aus 
die Güte seiner Sache am wenigsten zu verlassen hat, ist immer am fertigsten, 
die Einsicht seines Richters in Zweifel zu ziehen." 
2. 
Der Mensch ward Richter. — „Roch ein Wort!" rief ihm der majestätische 
Löwe zu, „bevor du den Ausspruch thust! Nach welcher Regel, Mensch, willst 
du unsern Wert bestimmen?"
	        
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