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der Mutter verlaufen wollen oder ein Raubtier heranschleicht, da schreiten
sie sogleich selber ein und stellen das gestörte Gleichgewicht wieder her.
Die Hirten umlagern unterdessen ihr Feuer und schmauchen ihre
Pfeifen, deren Köpfe gewöhnlich doppelt so lang wie das Rohr sind.
Wenn sie der Hunger beschleicht, ziehen sie aus ihrem Tornister ein Stück
Speck und verzehren es roh oder am Feuer geröstet zu ihrem schwarzen,
aber schmackhaften Brote. Findet sich obendrein auch noch ein Schluck
Wein in der Feldflasche und ein Stück Schöpsenfleisch zum Weine, so
tauschen sie mit keinem Fürsten der Welt.
. Merkwürdig ist die Art und Weise, wie die Pferdehirten die 10
wilden Pferde bändigen. Es wird aus einem Stricke eine Schlinge ge—
macht, von der der Hirte das eine Ende an seiner Hand befestigt, dann
schleicht er sich an das wilde Roß und wirft ihm die Schlinge um den
Hals, sich selbst aber in ziemlicher Entfernung zu Boden. Indem er
iun den Strick anzieht, will das Pferd in entgegengesetzter Richtung 15
davon rennen; aber die Schlinge schnürt ihm fester den Hals zu, und so
stürzt es endlich atemlos zu Boden. In diesem Augenblick springt der
Hirt auf und stellt sich über das Roß, so daß es gerade zwischen seine
Beine zu liegen kommt. Dann lockert er langsam die Schlinge, das
Pferd erhebt sich; aber durch die Bewegung hat es den Hirten auch schon 20
auf dem Rücken sitzen, der mit ihm davon sprengt und es nun renuen
läßt, bis es müde und gefügig wird. Mut, Gewandtheit und eine eigen⸗
tümliche Geschicklichkeit in Abrichtung und Behandlung der Pferde tun
das übrige. In kurzer Zeit entspinnt sich zwischen Roß und Reiter jenes
freundschaftliche Verhältnis, wie es eben nur auf diesen Heiden und unter 25
diesen Menschen vorkommt. Das Roß kennt die Hand seines Herrn,
dieser jede Bewegung seines Pferdes, sie sprechen miteinander eine Ge—⸗
bärdenfprache, die beiden vollkommen verständlich ist. Der Hirt teilt
jeden guten Bissen mit seinem Rosse, kann aber dafür ihm auch blind⸗
lings vertrauen. Fall. 30
329. Aus lirol.
1. Wenn du gegen die sonnigen Lande wanderst, wo in ewiger
Schöõne die Rosen und die Palmen stehn, so führt dein Weg dich
vorher durch eine Gegend, in der dein Herz entweder schauert vor
Grauen oder bebt vor Wonne.
2. Du wanderst durch ein Gebirgsland, wie es herrlicher auf
Prden nicht zu sinden ist: schattige Engschluchten. an den steilen
Hängen Urwaldwüsten, dann stille Hoehtalor mit hlühenden Dörkern,
Passe mit grünen, blumigen Almen, ringsum im Hintergrund sich
aufbauend eine Felsenwelt mit unerhörten Gebilden und leuehtenden 0
Pisschildern. umbaut von Wolken, umkreist von Adlern.