Full text: Deutsches Lesebuch für die mittlere und obere Stufe (Theil 2, [Schülerband])

211 
— 4 
er faßt sich; hoch emporgerichtet steht er vor seinem Beleidiger 
da, und mit einem Ton der Stimme, welcher auch dem rohesten 
Herzen Achtung gebietet, spricht er: ‚Das war für mich; — jetzt 
aber mein Hert, geben Sie mir auch etwas für meine hungernden 
Armen und Kraͤnken, welche noch heute mit Nahrung und 
Erquickungen versorgt werden müssen!“ 
5. Einer solchen Macht des hohen Selbstbewußtseins und 
guten Gewissens gegenüber — wird es dem rohen Beleidiger ganz 
sonderbar zumute; er wirft die Karten hin, springt von semem 
Stuhl auf, umarmt den Almosensammler — und gibt, denn die 
Lust am Spiele war ihm vergangen, all das Geld, das er eben 
bei sich führte, zur Linderung der fremden Not hin. Auch die 
andern Gäste, am Spieltische wie im Zimmer, großenteils reiche 
und vornehme Müßiggänger, reichten dem hochherzigen Empfänger 
der Ohrfeige ungewöhnlich ansehnliche Gaben für seine Kranten 
dar. Er selber aber, der Almosensammler, ging herzlich dankend 
seines Weges mit einer Träne im Auge, welche ihm nicht der 
Unmut oder der Schmerz über die erduldete Mißhandlung, sondern 
die Freude über den Sieg jener Liebe ausgepreßt hatie, welche 
dem Menschen schon das irdische Dasein zu einem Vorhofe des 
Himmels macht. 
— — — 
166. Ein Stücklein von zweien, die das Herz 
auf dem rechten Pleck hatten. 
Franz Blanckmeister. 
Sachsenspiegel. Dresden. 1897. S. 188. 
1. Friedrich Ahlfeld, weiland Pastor an St. Nikolai in 
Leipzig, war einmal zur Kur in einem schlesischen Bade. Da 
Kkam die Nachricht, dab es in einem Städtchen der Gegend 
gebrannt habe. MNan bat ihn, er möge für die arme, hbart— 
betroffene Gemeinde unter den Badegãsten sammeln. Das lieb 
sich Ahlfeld niebt zweimal sagen, denn er hatte ein warmes 
Herz. Scehnell setzte er ein Runäschreiben auf und schilderte 
darin den Notstand. Der Badedirektor und der Gemeinde— 
vorstand, ein ausgedienter Major, schrieben ihre Namen 
darunter, und der Diener des Majors, ein alter Sergeant, 
ward mit dem Schreiben im Orte herumgeschickt. um die 
Beitrãge einzusammeln. 
2. Drei Tage lang wanderte der Sergeant in allen seinen 
freien Stunden den Ort auf und ab, und das war Lein, 
Kleinigkeit, denn der Ort war eine halbe Meile lang. Wenn 
er die Leute nicht antraf, so lieb er sich die Mühe nicht 
11*
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.