Full text: Deutsches Lesebuch für die mittlere und obere Stufe (Theil 2, [Schülerband])

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Gottes Strafgericht in Rußland. 
Mit diesem stillen Seufzer endete ihr Leben. Der König war zurückge¬ 
sunken, während die Prinzen vor dem Bette der geliebten Todten knieten. 
Doch bald erhob er sich und hatte noch die Kraft, seiner Luise die Augen zu¬ 
zudrücken, — „seines Lebens Sterne, die ihm auf seiner dunklen Bahn 
so treu geleuchtet." Der tiefste Schmerz eines ganzen Volkes begleitete 
ihren Leichenzug nach Charlottenburg. Hier, in stiller Einsamkeit, steht 
ein einfacher schöner Tempel aus Marmor, von Bäumen beschattet. 
Dort ruht die Selige. Alljährlich betete der gebeugte König au ihrem 
Sterbetage vor ihrem Sarge, und immer noch ist der 19. Juli für die 
königliche Familie ein Bet- und Gedenktag an die geliebte Dahingeschiedene. 
III. llvttes Strafgericht in Russland. 
Napoleon hatte fast alle Fürsten und Völker Europa’s 
bezwungen, und schwer lastete seine Hand auf den besiegten 
Ländern. Seine Heere standen in Spanien; Italien war ihm unter¬ 
worfen, Holland ihm unterthänig; Oesterreich hatte er niederge¬ 
worfen in blutigen Schlachten; die deutschen Fürsten mussten 
thun, wie er wollte, und auch Preussen hatte er an den Rand des 
Verderbens gebracht. Nun gelüstete es ihn, auch Russland seiner 
Herrschaft zu unterwerfen. Im Sommer des Jahres 1812 brach 
er mit Viermalhunderttausend auserlesenen Kriegern zu Fuss und 
sechzigtausend zu Ross nebst 1200 Stück Geschütz in das grosse 
russische Reich ein. Er hatte die besten Schaaren aus allen Län¬ 
dern Europas versammelt. Sie waren in allen Künsten der Waisen 
wohl geübt und mit allem Kriegszeuge aufs beste versehen. Aber 
in diesem Kriegszuge setzte Gott dem stolzen Eroberer sein Ziel. 
— In mehreren blutigen Schlachten zeigten sich zwar die Russen 
tapfer; aber sie mussten das Schlachtfeld räumen und zogen sich 
tief in das Land hinein nach Moskau, der alten Hauptstadt des 
Reiches, indem sie Alles hinter sich her verheerten. Napoleon 
folgte ihnen gegen den Rath seiner Generäle. Da ereilte ihn in 
der alten Czarenstadt die göttliche Gerechtigkeit. Am 14. Sep¬ 
tember war er siegestrunken in das ehrwürdige Schloss der 
russischen Kaiser, den Kreml, eingezogen; aber schon in der fol¬ 
genden Nacht brachen dort Uber seinem Haupte die Flammen aus, 
welche vier Tage lang wütheten und die ganze Stadt in Asche 
legten. Unsäglicher Schrecken ergriff das ganze Heer, welches 
in Moskau sichere Winterquartiere zu finden gehofft hatte. Ende 
October musste Napoleon den Rückzug durch das feindliche Land 
antreten. Hierauf hatten die Russen gewartet. Mit den Schwärmen 
ihrer Kosaken verfolgten sie den fliehenden Feind, liessen ihm 
keine Ruhe weder bei Tag, noch bei Nacht, und wer sich nur 
von dem Hauptheere entfernte, wurde niedergemacht. Da brach 
Tod und Verderben noch furchtbarer über das gewaltige Heer 
herein. Früher als gewöhnlich trat in den öden Steppen Russ¬ 
lands ein harter Winter ein. Die fliehenden Schaaren hatten keinen
	        
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