Full text: Für Mittelklassen (Teil 1, [Schülerband])

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Des Winters Scheiden. 
105. Die Boten des Frühlings. 
Wenn der Winter auf der Erde König ist, dann stecken alle Blüm— 
chen noch tief in der Erde und warten mit Ungeduld auf die Zeit, da 
sie wieder hervorkommen dürfen an die wieder erwärmte Luft und die 
freundlichen Sonnenstrahlen. 
Der Frühling aber spricht zu ihnen: „Folgt mir hübsch, meine 
lieben Kinder, seid nicht so ungeduldig und wartet fein, bis euch erlaubt 
wird, hervor zu kommen und eure Blatter und Blüten zu entfalten. Wer 
aber vorwitzig und neugierig ist, der wird allemal zu Schaden kommen.“ 
Wenn der Frühling also spricht, dann klagen die Blümlein nicht 
mehr so laut; aber viels denken doch: „Warum sollen wir nun solange 
in der finstern Erde stecken und nicht heraufkommen an das liebe 
Sonnenlicht?“ 
Sobald nun des Winters Königreich sich zu Ende neigt, ruft der 
nn dn Schneeglöckchen und spricht: „Geh jetzt hinauf mit deinen 
grünen Blättern und weißen Blüten. Du sollst mein Bote sein an die 
Menschen, damit sie sehen, daß ich nun bald kommen werde mit allen 
meinen Kindern.“ 
„Aber,“ spricht dann das Glöckchen, „du hast uns ja gesagt, daß 
es rauh, kalt und garstig ist, wenn der Winter auf der Erde ist. Muß 
ich armes Blümchen da nicht erfrieren und umkommen?n Tue 
nur nach meinem Gebot,“ erwiderte der Frühling, „ein gutes Kind ge— 
e stets gern, auch wenn es den Willen seines Vaters nicht versteht. 
eil du aber ein folgsames und verständiges Kind bist, so will ich dir 
sagen, warum du unter allen zuerst und allein hinaufgeschickt wirst auf 
die Erde, wo noch rauher Winter ist. Der liebe Gon hat deine Blätter 
und Blumen so gemacht, daß dir die rauhe, kalle Luft und der garstige 
Schnee gar nichts schaden, so daß du gerade da am schönsten grünen 
und blühen kannst. Deine Schwestern würden aber verkümmern und 
sterben; denn was der eine tun und vertragen kann, das kann nicht 
auch jeder andere.“ 
Da gehorchte das Schneeglöckchen und bohrte seine spitzigen, schmalen 
Blätter ünd Blütenknospen durch die harte Erde und duͤrch den kalten 
Schnee und fing an zu blühen. Und siehe da, es kam gerade so, wie 
es der Frühling vorgusgesagt hatte. Die Sonnenstrahlen erwärmten 
noch wenig, und der Schnee, der es rings umgab, und die kalte, rauhe 
Luft, die ir andere Blumen Tod und Verderben gewesen wären, färbten 
die Blätter des Schneeglöckchens mit einem herrlichen Grün und seine 
Blüten mit reinem Schneeweiß. Es fror nicht, sondern war ganz warm 
und frohen Mutes, so daß es sich seiner ersten Furcht n und 
wohl einsah, wie der liebe Gott alles machen kann, wie er will. 
Lübens Lesebuch.
	        
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