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Er aber sieht und hört dich nicht,
Kommt nicht, daß du ihn froh umfängst;
Der Mund, der oft dich küßte, spricht
Nie wieder: Ich vergab dir längst.
Er that's, vergab dir lange schon,
Doch manche heiße Thräne fiel
Um dich und um dein herbes Wort. —
Doch still, er ruht, er ist am Ziel!
O lieb', so lang du lieben kannst!
O lieb', so lang du lieben magst!
Die Stunde kommt, die Stunde kommt,
Wo du an Gräbern stehst und klagst.
96. Die Zeit der Stille und des Friedens.
Betrachtet die Natur; immer kürzer werden die Tage, immer
länger werden die Nächte, als wollten sie zur Ruhe winken. Der
Baum, der Blätter und Früchte getragen, hat seine Lasten abge—
schüttelt, er treibt nicht mehr. Die Fluren, die euch ihre Garben
geboten, haben ihr Kleid abgelegt, sie ruhen. Tausend lebendige
Geschöpfe lagern sich jetzt wieder zum langen Winterschlafe. Wie
viel liegt darin für den Menschen, wie viel Hinweis und Trost!
Nicht immer soll des Lebens Unruh währen, es kommt eine Zeit
der Stille und des Friedens. Nicht immer soll der Schweiß der
Arbeit von der Stirne rinnen, es kommt ein Abend mit erquick—
licher Kühle vom Himmel herab. Nicht immer soll des Tages Hitze
beugen und das Leben beschweren, es winken küͤhlende Schatten dem
getreuen Arbeiter zu. Dem getreuen! O daß wir treu erfunden
wuͤrden! Der Muͤden sehe ich wohl viele und der Gebeugten, die
unter der Last der Arbeit lange geseufzt; aber daß alle getreu er—
funden würden! Wie sanft würdet ihr dann ruhen! Sanfte Ruhe
aber geben nicht die Ehren, nach denen ihr geizt; nicht die Freuden,
die sinnlichen, nach denen ihr hascht; nicht die Besitztümer der Erde,
deren ihr nickt genug haben könnt. Sanfte Ruhe giebt ein un—
verletztes Gewissen, ein lebendiger Glaube und eine gläubige
Tugend; sanfte Ruhe giebt ein Leben voll Liebe, Geduld und Gott—
seligkeit. Drum, wohl euch, ihr Getreuen in Amt und Beruf, die
ihr bebauet das Feld der Wahrheit, der Tugend und der Gerechtigkeit.
Ihr mögt wohl viel Arbeit gehabt haben und viel Undank und