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Als Siegesbeute ließ Napoleon das Viergespann der Viltoria, Schadows
herrlicheß Werk, vom Brandenburger Thore herunternehmen und nach
Paris senden, wo es dann, in Kisten verpackt, in einem Schuppen stand,
bis es sich die Preußen wiederholten. Nur eine eiserne Haltstange blieb hoch
aufgerichtet auf dem Thore stehen, für die Berliner fortwährend ein Stachel.
Und fürwahr, sie schienen dessen zu bedürfen. Zwar war die Stim—
mung der Bürgerschaft bei dem Einzuge der Franzosen eine gedrückte gewesen,
aber die höhern Stände zeigten vielfach zustimmende Haltung. Aus der
Gefangenschaft entlassene preußische Offiziere, die nach Berlin kamen,
wurden nicht selten mit Schmähungen überhäuft. Wohlhabende junge
Leute bildeten sogar ein Freiwilligen-Corps, das in einer hellgrünen, gold⸗
gestickten Uniform den Dienst in den Vorzimmern der französischen Generale
versah. Stadt und Land wurde wie eine französische Provinz verwaltet.
Ein „Verwaltungs⸗Ausschuß“ wurde auf das Verlangen der französischen
Behörden gewählt, der die Verantwortung für die genaue Ausführung
ihrer Anordnungen zu tragen und sich eidlich zu verpflichten hatte, „keine
Verbindung mit den Feinden des Kaisers unterhalten zu wollen.“ Lieferanten
für die französischen Truppen fanden sich in Berlin mehr, als man brauchte.
Verächtliche Angeber schlichen im Dunkeln; erbärmliche Kriecherei vor den
Siegern zeigte sich offen am Tage. Eine einzige Unterredung machte den
berühmten Professor Johannes von Müller, den Lobredner schweizerischer
Freiheit, zu einem begeisterten Verehrer des Franzosenkaisers.
Indes wenige Monate genügten, und die Stadt war nicht wieder⸗
zuerkennen. „Sire“, hatte bei der Vorstellung der Behörden der greise
Prediger Erman zu Napoleon gesagt, „ich wäre des Kleides nicht wert,
das ich trage, noch des Königs, dem ich diene, wenn ich nicht den tiefsten
Schmerz empfände, Ew. Majestät an dieser Stelle sehen zu müssen.“ Das
war jetzt nicht mehr eine vereinzelte Empfindung; denn der Druck der
französtschen Besatzung vernichtete nicht den Wohlstand nur, sondern fast
die Möglichkeit zu leben. Die meisten Handwerker waren ohne Beschäftigung
und darum ohne Verdienst. Den Beamten wurden die Gehälter nicht
gezahlt. Das tiefe Sinken der Staatspapiere verschlang die kleinen
Vermögen. Die Häuser wurden wertlos, da keine Mieten mehr entrichtet
wurden. Geld war nur durch schwerste Opfer aufzutreiben. Auf allen
Straßen und Plätzen sah man zerlumpte Kinder und Bettler; im Lust⸗
garten lagerten sie in ganzen Haufen, und scharenweis sammelten sie sich
in den Vorhallen und an den Eingängen der Kirchen. Wie ein täglich
wiederholter Weckruf wirkte Not und Elend; gleichsam ein Gefühl von
Reue kam über die Gemüter. Ein dumpfes Grollen ging durch alle Stände.
Berlinisches Lesebuch. Oberstufe II.
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