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263. Kaiser WVilhelm J. am Ponster.
Nach L. Luler.
Es ist hergebrachte Sitte, dass der Truppenteil, der die
grosse Hauptwache am Rastanienwaldehen in Berlin um 1 Ubr
mittags bezieht, mit voller Regimentsmusik aufmarschiert. War
Kaiser Wilhelm I. in seinem Palais am Opernplatze anwesend,
so pslegte er dann die Arbeit oder eine von ihm gerade erteilte
Audienz auf kurze Zeit zu unterbrechen, um ans Penster zu
treten und nach den stramm Vorbeimarschieérenden zu sehen,
bis sie vorübergezogen waren. Die gerade des Weges
kommenden Personen gingen entblössten Hauptes vorüber oder
blieben stehen, solange der Kaiser sichtbar war; es erklangen
wohl aueh vereinzelte Hochrufe.
Aus diesen mehr zufälligen Beweisen der Verehrung
entwickelte sich später eine wabrhaft grossartige, tagliche
patriotische Kundgebung, die jeden Teilnehmenden aufs
tiefste ergriff. Hunderte, ja, an schönen Tagen und besonders
Sonntags Tausende erfüllten den Platz um das Denkmal
Friedrichs des Grossen. Mit Muihe hielten Schutzleute
zu FPulss und zu Pferde die Strassen für dio Wagen und
für die erwarteten Wachtmannschaften frei. Und hier-
b ging es nicht etwa wie bei andern Gelegenheiten laut
und lärmend zu; denn auch das hier versammelte Publikum
und sein Verhalten gehörte zu dem Wunderbaren dieser
Scene. Alle Schichten der Bevölkerung, alle Stände, alle
Volks- und Altersklassen san man hier vertreten. Man
erkannte und begrüsste den hochgestellten Beamten, man
schuttelte dem Kollegen die Hand, nickte einem Bekannten zu,
lũftete den Hut vor einer Dame, mit der man in der Gesellschaft
zusammengekommen war, führte selbst vielleieht seine Prau,
seine Tochter am Arme. Burger, Handwerker, Arbeiter fanden
sich ein, wenn es ging, mit Weib und Kind. Offiziere, Soldaten,
Kadetten erschienen, Schulkinder mit ihren Buckelmappen,
Dienstmãdehen, den Marktkorb am Arme. Droschken und
Equipagen fuhren auf der gegenüberliegenden Seite der Strasse
langsam auf und ab, um zu rechter Zeit an einer für die In-
sassen gunstigen Stelle zu halten.