Full text: Lesebuch für die Oberstufe der evangelischen Volksschulen des Herzogtums Oldenburg

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sehr gefreut, Sie heute hier zu sehen und eine Gelegenheit zu haben, Ihnen 
meinen herzlichen Dank auszudrücken.“ — „Sie sprechen in Rätseln. Wie kann 
ich Sie zum Dank verpflichtet haben, wenn ich Sie gar nicht kenne?“ — „Das 
ist allerdings eine alte Geschichte; aber wenn wir uns hier niedersetzen und Sie 
mir dann einige Augenblicke zuhören wollen, so, glaube ich, werden Sie sich 
meiner doch vielleicht noch erinnern. Es sind jetzt siebzehn Jahre her — ich 
war damals ein Knabe von neun Jahren —, als ich eines Morgens auf meinem 
Schulwege darüber nachdachte, wie angenehm es sein wuͤrde, wenn ich zu dem 
Brot, das mir die Mutter zum Frühstück mitgegeben, auch einen Apfel hätte; 
meine Kameraden aßen oft so schöns, große Apfel, und ich bekam nur selten 
Obst. Mit solchen Gedanken beschäftigt, kam ich auf den Marktplatz, über den 
mein Weg führte. Da waren viele Körbe, voll der auserlesensten Früchte, die 
mich so recht anlachten. Ich blieb unwillkürlich stehen, um sie zu betrachten. 
Die Eigentümerin hatte ihrer Ware den Rücken zugekehrt und sprach angelegent⸗ 
lich mit einer Nachbarin. Da kam mir so der Gedanten Sie wirden kaum 
bemerken, wenn du einen Apfel nimmst; sie behält ja eine große Menge noch. 
Leise streckte ich meine Hand aus und wollte eben ganz vorsichtig meine Beute 
in die Tasche stecken, als ich plötzlich eine derbe Ohrfeige bekam, so daß ich vor 
Schrecken den Apfel fallen ließ. „Juͤnge!“ sagte zugleich eine Stimme, „wie heißt 
das siebente Gebot? Nun, ich hoffe, daß es das erste Mal ist, wo du deine 
Hand nach fremdem Gute ausstreckft; laß es zugleich das letzte Mal sein.“ — 
Ich fühlte, daß ich ganz rot vor Scham geworden war, und wagte kaum, die 
Augen aufzuschlagen; doch aber sind mir die Züge des Mannes ebenso unver— 
geßlich geblieben wie die Begebenheit selbst. Anfangs war ich in der Schule 
sehr zerstreut; immer tönten in meinen Ohren die Wonle wieder, die ich gehört 
hatte. Mein Herz war so voll, ich hätfe weinen mögen; am meisten aber 
blieben meine Gedanken bei dem Schlusse stehen: Laß es zugleich das letzte Mal 
sein! Und ich nahm mir fest vor: Ja, es soll gewiß das erste und lehte Mal 
sein! Aber auch lange nachher, wenn wir unsern Katechismus aufsagten und 
der Lehrer fragte: Wie heißt das siebente Gebon erinnene mich das heftige 
Klopfen meines Herzens an jenen Morgen. — Als ich nach einigen Jahren die 
Schule verließ, kam ich zu einem Haͤndelsfreunde meines Vaters Bremen 
aufs Comptoir; von dort ging ich später nach Südamerika. Es wird Sie nicht 
befremden, wenn ich sage, daß die Versuchungen, andere zu übervorteilen und 
so seine Hand nach fremdem Gut auszustrecken, für einen jungen Kaufmann nicht 
selten sind. Auch hier blieben solche Versuchungen für mich nicht aus; aber 
sobald mir dergleichen nahe traten, war es mir immer, als fühlte ich von 
neuem die Ohrfeige, und die Worte: Laß es zugleich das letzte Mal sein! halfen 
mir alle derartigen Anträge zurückweisen. Sei fünfzehn Monaten bin ich jetzt 
wieder in meiner Vaterstadt, und mit innigem Dank gegen den Herrn darf ich 
sagen, daß bei dem nicht unbedeutenden Vermögen, welches ich mit herüber— 
gebracht habe, gewiß kein Pfennig fremden oder unrechten Gutes ist.“ 
Der junge Mann hielt hier einen Augenblick inne, denn er war durch seine 
Erzählung ersichtlich selbst sehr bewegt worden, dann aber ergriff er die Hand 
des Herrn Müller und sagte: „Erlauben Sie jetzt, daß ich diese Hand, die 
mir eine solche Wohltat erwiesen hat, recht dankbar drücken darf!“ — „Und 
erlauben Sie mir,“ entgegnete Herr Müller, indem er mur Trnen im Auge 
ihn an sich zog, „daß ich den Mann recht von Herzen lieb haben darf, der 
einer solchen Dankbarkeit fähig ist, und der im späteren Leben so treu gehalten, 
was er als Knabe gelobte.“ Voltksbl. f. Stadt und Land.)
	        
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