Full text: Lesebuch für die Oberstufe der evangelischen Volksschulen des Herzogtums Oldenburg

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scheiben des Gasthofes betrachtet, der erkennt alsbald, daß diese schöne Medaille 
eine wen minder anziehende Kehrseite besitzt. Hinter den drei oder vier un— 
vergleichlich schönen Straßenfluchten, die für sich allein das Paris des Fremden 
aus machen, dehnen sich eine Meile weit nach allen Richtungen Hunderte von 
versteckten Plätßen, Gassen und Gäßchen, die auch nicht die geringste Ahnlichkeit 
in ihrem Aussehen mit den stolzen „Boulevards haben. Hier gibt es keine 
von Bäumen eingesäumten Asphalt-Fahrdämme und breiten Fußsteige; die 
Straßen sind eng, dumpf, ohne Luft und Licht; den Fahrdamm decken spitze 
Steine, auf denen es sich so angenehm geht wie auf Glasscherben oder Eisen— 
nägeln, und über welche die Fuhrwerke mit fürchterlichem Gerumpel hinrasseln. 
D Sielle der Burgersteige nehmen schmale Streifen, manchmal bloß ein einziger, 
erhoͤhter Randstein ein, der sich die Häuser entlang zieht, und auf dem zwei sich 
enlgegenkommende Fußgänger einander nicht ausweichen können. Der Boden ist 
zu jeder Jahreszeit und bei jedem Wetter kotig und feucht; die Sonnenstrahlen 
bermögen nicht so tief hinabzudringen, um ihn auszutrocknen. Die Häuser, 
welche die Straßen einfassen, sind turmhoch, schmal, von einer erkältenden 
Nüchternheit und Schmucklosigkeit der Bauart, und dazu meist bis zur Höhe 
des zweiten oder dritten Stockwerkes mit einer trostlosen, grauen oder rotbraunen 
Tunche überzogen, auf der sich die Schilder und Ankündigungen von Kaufleuten 
breitmachen. Das Erdgeschoß nehmen niedrige Läden ein, an die sich rückwärts 
ein dunkles, stickiges Gemach anschließt, das in vielen Fällen den Ladenbesitzern 
als Wohnung dient. Die Luft, die man atmet, scheint aus unterirdischen Ge⸗ 
fängnissen hergeholt zu sein, und das Tageslicht verirrt sich nur sellen in diese 
Wohnräume. A. Mauer. Geographische Bilder.) 
215. Das Erdbeben von Lissabon. 
Die schöne Stadt Lissabon wurde vor etwa 150 Jahren durch ein 
schreckliches Erdbeben in wenig Minuten fast gänzlich verwüstet. Es war am 
Allerheiligentage, also am 1. November 1755, bei einem heitern, klaren Himmel, 
als man vormitlags zwischen neun und zehn Uhr eine leise Erschütterung der 
Häuser verspürte und zu gleicher Zeit einen dumpfen Donner unter der Erde 
vernahm. Darauf folgte ein schreckliches Geprassel als ob auf einen Schlag 
alle Häuser der Stadt zusammengestürzt wären. Der Fußboden wankte, das 
Gerät in den Zimmern fiel durcheinander; man hatte Mühe, sich auf den Füßen 
zu halten. Es entstand eine Finsternis; Staub und Schwefeldünste, die aus 
der Erde herauskamen, erfüllten die Luft und erschwerten das Atemholen. Aus 
den Kirchen und Straßen, die durch zusammenstürzende Häuser gesperrt wurden, 
strömten die Menschen heulend und schreiend nach den Ufern des Tajo. Hier 
lagen Hunderte auf den Knien und riefen: „Barmherzigkeit, lieber Gott!“ voll 
Verzweiflung zum Himmel hinauf. 
Jetzt kam der zweite Erdstoß; — ein tausendstimmiger Schrei fuhr durch 
die Luft. Alle stürzten zur Erde, so stark war die Erschütterung Das Meer 
ward aufgewühlt bis auf den Grund und brach über die Ufer herein. Wasser— 
berge rollten daher und spülten Hunderte hinweg. Der ganze Kai (Uferbau) 
mit unzähligen Menschen darauf sank plötzlich ein und verschwand spurlos in 
einem Erdspalt, der fich durch das Erdbeben gebildet hatte. Der dritte Erd— 
stoß war weniger heftig, aber gräßlich war der Anblick der Toten und Ster— 
benden in den Straßen und auf den Plätzen; reichgekleidete Personen, Bettler, 
Handwerker, Mönche, Priester, — alles lag bunt durcheinander. Diesem waren
	        
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