125
361. Veranlassung und Anfang der Kreuzzüge.
Jahrhunderte lang pflegten christliche Pilger ungestort nach dem heiligen
Lande zu wallfahrten, um an den Stätten, wo der Heiland gelehrt und gelitten
halte, zu beten. Solange die Araber in jenen Gegenden herrschten, hatten sie
solche Wallfahrten nicht gehindert. Als aber die Türken daselbst die Herrschaft
gewannen, wurden die frommen Leute, die nach Jerusalem zogen, immer ärger
bedrückt. Es ward ihnen schwerer Zins abgefordert, die Heiligtümer wurden
entweiht, fromme Andacht verhöhnt, der Priester an den Haaren vom Altar
weggerissen. Als nun die Christen unter so schmählicher Entwürdigung seufzten
erbarmte sich Gott und erweckte die Christen des Abendlandes daß sie heran⸗
zogen, Erlöfung vom Joche der Ungläubigen zu bringen.
Abs im Jahre 1095 viele Geistliche und Fürsten und unzähliges Volk aus
den Ländern nordwärts der Alpen in Clermont sich zusammengefunden hatten,
erhob sich der Papst Urban und sprach: „Ihr wisset, wie das Land der Ver—
heißung in die Hände der Ungläubigen gefallen ist. Diese Wiege unsres Heils
ird von den Heiden in arger Knechtschaft gehalten. Die Stadt Gottes zahlt
Zins. Der Tempel, aus dem der Herr die Käufer und Verkäufer austrieb, ist
eine Wohnung des Teufels geworden. Die Kirche der Auferstehung, die Ruhe—
stätte des Heilandes, muß den Frevel derer dulden, die keinen Teil haben am
ewigen Leben. Die geweihten Stätten sind Viehställe geworden. Die Kinder
der Christen werden von ihren Eltern gerissen und müssen entweder Gott lästern
oder, im Glauben beharrend, den Martyrertod sterben. Die Gottlosen achten
weder Ort noch Stand: im Heiligtume werden die Priester gemordet. Wehe,
die Zeiten sind erschienen, davon König David geweissagt hat: Die Heiden sind
in dein Erbteil gefallen! Gott, wirst du denn ewig zürnen? Nein, der Herr
wird die Leiden enden nach seiner Barmherzigkeit. AWer wehe uns, daß wir
stille sitzen und ruhig zuschauen der Schmach der Stadt Gottes! Darum, meine
Geliebtesten, waffnet Euch! Ein jeglicher umgürte seine Lenden mit dem
Schwerte, unsern Brüdern zu helfen; denn es ist besser zu sterben für unser
Volk, als länger den Greuel zu dulden. Lasset uns ausziehen, und der Heir
wird mit uns sein. Wendet die Waffen, die ihr sündhaft gegeneinander gekehrt
habt, wider die Feinde des Glaubens, und als wahrhaft christliche Ritter sühnet
durch solche Taten den Zorn Gottes, den ihr durch Raub, Mord und Feind—
schaft auf euch geladen habt. Im Namen Gottes verkündigen wir allen, die
gegen die Ungläubigen die Waffen ergreifen, vollkommenen Ablaß ihrer Sünden,
und denen, die im Kampfe fallen, verheißen wir das ewige Leben!“
Unbeschreiblich war die Wirkung dieser Worte. Als hätte der Herr selber
geredet, so war alles von Begeisterung erfüllt. Zuerst traten zwei Bischöfe vor
den heiligen Vater, knieten nieder und baten um das Zeichen des Kreuzes, das
ihnen auf die Schulter geheftet ward, dann die Menge der übrigen. Als die
Anwesenden heimkehrten und die Verheißung des Papstes verkündeten, entstand
eine allgemeine Bewegung unter allem Volke. Es schieden Gatten von Gatten,
Eltern von Kindern, und kein Band der Viebe fesselte stark genug, um die Be—
geisterung zu hemmen. Kein Stand, kein Alter wollte ausgeschlossen sein von
der Teilnahme an dem großen Unternehmen.
Wilhelm von Tours. (A. Richters Quellenbuch.)
42