Full text: Lesebuch für die Oberstufe der evangelischen Volksschulen des Herzogtums Oldenburg

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361. Veranlassung und Anfang der Kreuzzüge. 
Jahrhunderte lang pflegten christliche Pilger ungestort nach dem heiligen 
Lande zu wallfahrten, um an den Stätten, wo der Heiland gelehrt und gelitten 
halte, zu beten. Solange die Araber in jenen Gegenden herrschten, hatten sie 
solche Wallfahrten nicht gehindert. Als aber die Türken daselbst die Herrschaft 
gewannen, wurden die frommen Leute, die nach Jerusalem zogen, immer ärger 
bedrückt. Es ward ihnen schwerer Zins abgefordert, die Heiligtümer wurden 
entweiht, fromme Andacht verhöhnt, der Priester an den Haaren vom Altar 
weggerissen. Als nun die Christen unter so schmählicher Entwürdigung seufzten 
erbarmte sich Gott und erweckte die Christen des Abendlandes daß sie heran⸗ 
zogen, Erlöfung vom Joche der Ungläubigen zu bringen. 
Abs im Jahre 1095 viele Geistliche und Fürsten und unzähliges Volk aus 
den Ländern nordwärts der Alpen in Clermont sich zusammengefunden hatten, 
erhob sich der Papst Urban und sprach: „Ihr wisset, wie das Land der Ver— 
heißung in die Hände der Ungläubigen gefallen ist. Diese Wiege unsres Heils 
ird von den Heiden in arger Knechtschaft gehalten. Die Stadt Gottes zahlt 
Zins. Der Tempel, aus dem der Herr die Käufer und Verkäufer austrieb, ist 
eine Wohnung des Teufels geworden. Die Kirche der Auferstehung, die Ruhe— 
stätte des Heilandes, muß den Frevel derer dulden, die keinen Teil haben am 
ewigen Leben. Die geweihten Stätten sind Viehställe geworden. Die Kinder 
der Christen werden von ihren Eltern gerissen und müssen entweder Gott lästern 
oder, im Glauben beharrend, den Martyrertod sterben. Die Gottlosen achten 
weder Ort noch Stand: im Heiligtume werden die Priester gemordet. Wehe, 
die Zeiten sind erschienen, davon König David geweissagt hat: Die Heiden sind 
in dein Erbteil gefallen! Gott, wirst du denn ewig zürnen? Nein, der Herr 
wird die Leiden enden nach seiner Barmherzigkeit. AWer wehe uns, daß wir 
stille sitzen und ruhig zuschauen der Schmach der Stadt Gottes! Darum, meine 
Geliebtesten, waffnet Euch! Ein jeglicher umgürte seine Lenden mit dem 
Schwerte, unsern Brüdern zu helfen; denn es ist besser zu sterben für unser 
Volk, als länger den Greuel zu dulden. Lasset uns ausziehen, und der Heir 
wird mit uns sein. Wendet die Waffen, die ihr sündhaft gegeneinander gekehrt 
habt, wider die Feinde des Glaubens, und als wahrhaft christliche Ritter sühnet 
durch solche Taten den Zorn Gottes, den ihr durch Raub, Mord und Feind— 
schaft auf euch geladen habt. Im Namen Gottes verkündigen wir allen, die 
gegen die Ungläubigen die Waffen ergreifen, vollkommenen Ablaß ihrer Sünden, 
und denen, die im Kampfe fallen, verheißen wir das ewige Leben!“ 
Unbeschreiblich war die Wirkung dieser Worte. Als hätte der Herr selber 
geredet, so war alles von Begeisterung erfüllt. Zuerst traten zwei Bischöfe vor 
den heiligen Vater, knieten nieder und baten um das Zeichen des Kreuzes, das 
ihnen auf die Schulter geheftet ward, dann die Menge der übrigen. Als die 
Anwesenden heimkehrten und die Verheißung des Papstes verkündeten, entstand 
eine allgemeine Bewegung unter allem Volke. Es schieden Gatten von Gatten, 
Eltern von Kindern, und kein Band der Viebe fesselte stark genug, um die Be— 
geisterung zu hemmen. Kein Stand, kein Alter wollte ausgeschlossen sein von 
der Teilnahme an dem großen Unternehmen. 
Wilhelm von Tours. (A. Richters Quellenbuch.) 
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