Full text: Lesebuch für die Oberklassen der katholischen Volksschulen Niedersachsens

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mehr! Da sollte man doch wahrlich denkèn, unsere Zeit sei die 
allerschlechteste seit Adams Tagen, und die Menschen seien alle— 
samt Unmenschen. Ich sag's jedem ins Gesicht, es ist nicht wahr, 
wenn's auch schlechte Menschen genug gibt. Eine schlechte Tat 
wird überall erzählt, aber wenn einmal eine gute geschieht, schweigt 
man davon. Die guten Menschen legen sich damit nicht an den 
Laden und lassen's austrompeten, wie es die Pharisäer machten. 
Drum will ich auch nicht stillschweigen, wenn ich eine gute 
hier oder dort höre, und will gleich eine erzahlen, die noch nicht alt ist. 
An einem schöõnen Sommertage war im Prater zu Wien ein 
großes Volksfest. Der Prater ist eben eine sehr grobe öffentliche 
Gartenanlage voll herrlicher Bäume und ist der Hauptspaziergang 
und Belustigungsort der Wiener. Viel Volk strömte hinaus, und jung 
und alt, vornehm und gering freuten sich dort ihres Lebens, und 
es kamen auch viele Fremde, die sich an der Volkslust erfreuten. Wo 
fröhliche Menschen sind, da hat auch der was zu hoffen, der an die 
Barmherzigkeit seiner glücklicheren Mitmenschen gewiesen ist. 
So waren denn hier einé Menge Bettler, Orgelmänner, Harfen- 
mãdchen, die sich ihren Kreuzer zu verdienen suchten. 
In Wien lebte damals ein Invalide, dem seine kleine Pension 
zum Unterhalte nicht ausreichte. Betteln mochte er nicht; er griff 
daher zur Violine, die er von seinem Vater erlernt hatte, der ein 
Böhme gewesen war. Er spielte unter einem alten Baume im Prater; 
und seinen treuen Pudel hatte er so abgerichtet, dab er vor ihm 
saß und den alten Hut im Maule hielt, in den die Leute die paar 
Kreuzer warfen, die sie ihm geben wollten. 
Heute stand er auch da und fiedelte, und der Pudel sab vor 
ihm mit dem Hute, aber die Leute gingen vorüber, und der Hut blieb 
leer. Hätten ihn die Leute nur einmal angesehen, sie hätten Barm-— 
herzigkeit haben müssen; dünnes, weibes Haar deckte kaum seinen 
Schãdel, ein alter, fadenscheiniger Soldatenmantel war sein Lleid. 
Gar manche Schlacht hatte er mitgekämpft und fast jede hatte 
ihm in einer Narbe einen Denkzettel angehängt, bei dem für das Ver- 
lieren keine Sorge nötig war. Nur drei Finger an der rechten Hand 
hielten den Bogen. Eine RKartätschenkugel hatte die zwei anderen 
bei Aspern*) mitgenommen, und fast zu gleicher Zeit nahm ihm 
eine gröbere Kugel ein Bein veg. Und doch sahen heute die 
fröhlichen Leute nicht auf ihn, und er hatte doch für den letzten 
*) Am 21. Mai 1809 im Kriege gegen Napoleon IJ. 
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