99
mehr! Da sollte man doch wahrlich denkèn, unsere Zeit sei die
allerschlechteste seit Adams Tagen, und die Menschen seien alle—
samt Unmenschen. Ich sag's jedem ins Gesicht, es ist nicht wahr,
wenn's auch schlechte Menschen genug gibt. Eine schlechte Tat
wird überall erzählt, aber wenn einmal eine gute geschieht, schweigt
man davon. Die guten Menschen legen sich damit nicht an den
Laden und lassen's austrompeten, wie es die Pharisäer machten.
Drum will ich auch nicht stillschweigen, wenn ich eine gute
hier oder dort höre, und will gleich eine erzahlen, die noch nicht alt ist.
An einem schöõnen Sommertage war im Prater zu Wien ein
großes Volksfest. Der Prater ist eben eine sehr grobe öffentliche
Gartenanlage voll herrlicher Bäume und ist der Hauptspaziergang
und Belustigungsort der Wiener. Viel Volk strömte hinaus, und jung
und alt, vornehm und gering freuten sich dort ihres Lebens, und
es kamen auch viele Fremde, die sich an der Volkslust erfreuten. Wo
fröhliche Menschen sind, da hat auch der was zu hoffen, der an die
Barmherzigkeit seiner glücklicheren Mitmenschen gewiesen ist.
So waren denn hier einé Menge Bettler, Orgelmänner, Harfen-
mãdchen, die sich ihren Kreuzer zu verdienen suchten.
In Wien lebte damals ein Invalide, dem seine kleine Pension
zum Unterhalte nicht ausreichte. Betteln mochte er nicht; er griff
daher zur Violine, die er von seinem Vater erlernt hatte, der ein
Böhme gewesen war. Er spielte unter einem alten Baume im Prater;
und seinen treuen Pudel hatte er so abgerichtet, dab er vor ihm
saß und den alten Hut im Maule hielt, in den die Leute die paar
Kreuzer warfen, die sie ihm geben wollten.
Heute stand er auch da und fiedelte, und der Pudel sab vor
ihm mit dem Hute, aber die Leute gingen vorüber, und der Hut blieb
leer. Hätten ihn die Leute nur einmal angesehen, sie hätten Barm-—
herzigkeit haben müssen; dünnes, weibes Haar deckte kaum seinen
Schãdel, ein alter, fadenscheiniger Soldatenmantel war sein Lleid.
Gar manche Schlacht hatte er mitgekämpft und fast jede hatte
ihm in einer Narbe einen Denkzettel angehängt, bei dem für das Ver-
lieren keine Sorge nötig war. Nur drei Finger an der rechten Hand
hielten den Bogen. Eine RKartätschenkugel hatte die zwei anderen
bei Aspern*) mitgenommen, und fast zu gleicher Zeit nahm ihm
eine gröbere Kugel ein Bein veg. Und doch sahen heute die
fröhlichen Leute nicht auf ihn, und er hatte doch für den letzten
*) Am 21. Mai 1809 im Kriege gegen Napoleon IJ.
32