72. Der Kallstein.
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wissen, wenn nicht ein böser Feind derselben uns ihr Geheimnis ver—
riete. Dieser Feind ist das Feuer. Es verfolgt unablässig das Wasser
und nötigt es zu schneller Flucht, wo es dasselbe findet. Selbst in dem
Versteck im Kalkstein, wo es keines Menschen Auge gewahrt, findet es
dasselbe auf und kämpft mit ihm so lange, bis das Wasser entweicht.
Du den Kalksteinbruch gesehen, in welchem die fleißigen
Männer 2.e Steinstücke losbrechen und zerschlagen und dann in Karren
laden. Tor einem sonderbaren Gebäude halten sie mit den Gefangenen
still. Es ist ein Kalkofen. Hier laden sie die Steine ab und setzen
sie in dem Ofen zusammen, lassen unten einen hohlen Raum und zwischen
den Steinen schmale Lücken. Nun schüren sie ein mächtiges Feuer an.
Die Kalksteine werden glühend heiß. Da kann das Wasser nicht mehr
bleiben; es muß heraus. Als leichter Dampf steigt es, vermischt mit
dem schwarzen Rauch des Feuers, hinaus aus dem Schornstein des
Ofens. Dabei wird aber auch der andere treue Freund des Kalksteines,
die Kohlensäure, ausgetrieben. Nun läßt der Kalkbrenner das Feuer
verglühen. Die Steine werden wieder kalt. Einsam, ohne Freund und
ohne Gesellschaft liegt der gebrannte Kalk, auch Ätzkalk genannt, jetzt da,
voll unendlichem Verlangen nach seinen verjagten Gefährten. Wir müssen
vorsichtig mit ihm umgehen; denn er ist sehr unzufrieden gestimmt; es
fehlt ihm sein Freund, das Wasser. Wollten wir ihn länger in der
Hand behalten, besonders wenn dieselbe etwas feucht ist, wollten wir
ihn an die Lippen bringen, wir würden bald an dem brennenden Schmerz,
den er erzeugt, seine Heftigkeit erkennen. Jede Spur von Wasser, die
in seine Nähe kommt, zieht er an sich und vereinigt sie mit sich. Der
kluge Mensch benutzt diese Heftigkeit da, wo es ihm darauf ankommt,
kleine Mengen von Wasser zu entfernen, die er auf andere Weise nicht
zu beseitigen vermag. So macht es dem Spiritusbrenner sehr große
Schwierigkeiten, das Wasser von dem Spiritus vollständig zu trennen;
denn Spiritus und Wasser sind selbst zwei gute Freunde, die sich un⸗
gern verlassen. Doch der Kalk ist noch viel leidenschaftlicher, viel heftiger
in seiner Liebe zu dem Wasser als der Spiritus. Der Fabrikant benutzt
dies und füllt ein Gefäß mit kleinzerschlagenem Ätzkalk. In dieses leitet
er den Spiritus, dem noch geringe Mengen Wasser beigemischt sind.
Der Kalk veranlaßt den verlornen und nun wiedergefundenen Freund,
das Wasser, den Spiritus zu verlassen und sich mit ihm zu verbinden.
Der so gereinigte, wasserfreie Spiritus rieselt aus dem Gefäße, wie es
der Fabrikant sich wünscht.
Wir tröpfeln auf ein Stück gebrannten Kalks, das 300 g wiegt,
allmählich Wasser. Es dampft auf, erhitzt sich und zerspringt in äußerst