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9. Der hnn mag's verwinden, er hat ja noch sein Land
Und einen vollen Säckel und eine mächt'ge Hand;
Er hat noch grüne Felder, noch Wiesen, voll von Duft,
Und drauf den Fleiß der Menschen und drüber Gottes Luft.
10. Zu seinem Fenster tritt er, sieht nieder, sieht hinaus,
Und Wiege seines Glückes bedünkt ihn jedes Haus.
Zum Seil hin eilt er glühend, will ziehn, will läuten — sieh!
Da stürmt's herein zum Saale, da fälll's vor ihm aufs Knie
11. „Herr König, siehst du drüben den Rauch, den Brand, den Strahl?
So rauchen unsere Hütten, so blitzt der Nachbarn Stahl!““
„Ha, freche Räuber!“ donnert der Fürst in wildem Glühn,
Und statt des Glöckleins muß er sein rächend Eisen ziehn.
12. Schon bleichen seine Haare, vor Dulden wird er schwach,
Und stets noch schweigt das Glöcklein auf seines Hauses Dach.
Und wenn's auch oft wie Freude sich auf die Wang' ihm drängt,
Er denkt kaum inehr des Glöckleins, das er hinauf gehängt.
13. Doch als er nun zu sterben in seinem Stuhle saß,
Da hört er vor dem Fenster Geschluchz' ohn' Unterlaß.
„Was soll das?“ fragt er leise den Kanzler, „sprich's nur aus!““ —
„Ach Herr! der Vater scheidet, die Kinder stehn vorm Haus.““
14. „Herein mit meinen Kindern! Und war man mir denn gut?“
„„Stünd', Herr, zu Kauf ein Leben, sie kauften dein's mit Blut!““
Dda wogts auch schon zum Saale gedämpften Schritts herein
Und will ihn nochmals segnen, ihm nochmal nahe sein.
15. „Ihr liebt mich also, Kinder?“ — Und tausend weinen: „„Jal!““
Der Koͤnig hört's, erhebt sich, steht wie ein Heil'ger da,
Sieht auf zu Gott, zur Decke, langt nach dem Seile stumm,
Thut einen Riß — es läutet — und lächelnd sinkt er um.
Johann Gabriel Seidl.
21. Der arme Musikant und sein Kollege.
Ich habe mich immer recht in die Seele hinein geärgert, wenn ich
das Wort hören muß: „Man hört in unsern Tagen nichts Gutes mehr!“
Da sollte man doch wahrlich denken, unsere Zeit sei die allerschlechteste
seit Adams Tagen, und die Menschen seien allesamt Spitzbuben, Un—
menschen und Halunken. Ich sag's jedem ins Gesicht, es ist nicht wahr,
wenn's auch Schufte genug giebt. Eine schlechte That wird überall er—
zählt, aber wenn mal eine gute geschieht, schweigt man davon. Die
guten Menschen legen sich damit nicht an den Laden und lassen's aus—
trompeten, wie es die Pharisäer machten. Drum will ich auch nicht stille
schweigen, wenn ich eine gute That hier oder dort höre, und will 'mal
gleich eine erzählen, die noch nicht alt ist.
An einem schönen Sommertage war im Prater zu Wien ein großes
Volksfest. Der Prater ist eben eine sehr große, öffentliche Garten—
anlage, voll herrlicher Bäume, und ist der Hauptspaziergang und Be—
lustigungsort der Wiener. Viel Volks strömte hinaus, und jung und
alt, vornehm und gering freuten sich dort ihres Lebens, und es kamen