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Als Napoleon die kriegerischen Vorkehrungen des russischen Kaisers
vernahm, rief er voll Zuversicht aus: „Rußland wird von seinem Ver—
hängnisse ergriffen; wohlan, es soll erfüllt werden!“ und ließ von den
Pyrenäen bis an die Küsten der Ostsee, von dem Niemen bis an das
AÄbriatische Meer das ganze Jahr 1811 hindurch unausgesetzt rüsten;
selbst Dsterreich und Preußen mußten Truppen stellen. Vom Frühjahre
bis zum Herbste war alles in Bewegung; nie sah bislang Europa
größere und schönere Heere vorüberziehen; der Zug glich einer Völker—
wanderung. Über fünfhunderttausend Mann Franzosen, Deutsche, Italiener,
Polen, selbst Spanier und Portugiesen traten den Zug an und rückten im
Fun 1812 über den Grenzfluß Niemen. Der Untergang Rußlands schien
um so gewisser und näher, da es gerade mit den Türken in einen Krieg
verwickelt war.
Aber unter Englands Vermittelung schloß Alexander mit den Türken
einen Frieden, in welchem der Pruth die Grenze seines Reiches wurde,
lund wendete nun seine ganze Macht gegen den neuen Feind mit der
feierlichen Versicherung, den Krieg nicht zu enden, so lange ein feind⸗
licher Streiter auf Rußlands Boden stehe. Napoleon hatte eine Ab⸗
lellung seines Heeres unter Oudinot (Üdinoh) und Macdonald auf die
Slaße nach Petersburg gegen den russischen Fürsten Wittgenstein ge—
schickt, mit der Hauptmacht ging er selbst gerade auf Moskau, die alte
Zarenstadt, los. Die russischen Anführer Barclai de Tolly Garkleh
dð Tolie) und Bagration zogen sich kämpfend vor ihm zurück. Nach zwei⸗
tägigem mörderischem Kampfe bei Smolensk, am 17. und 18. August,
erstürmten die Franzosen die Stadt, nachdem sie größtenteils eine Brand⸗
staͤtte geworden war. Jetzt übernahm der alte Kutusow, der eben siegreich
aus dem Türkenkriege zurückgekehrt war, den Oberbefehl über das russische
Heer. Auch er zog sich zurück und brannte hinter sich alle Städte und
Drfer nieder, um den Feinde nur eine Wüste zurückzulassen. An der
Moskwa, fünfzehn Meilen von der alten Hauptstadt, machte er endlich
Halt; die Ehre des Reiches schien eine Schlacht zu fordern zu ihrer
Rettung. Da rief Napoleon frohlockend: „Soldaten, hier ist die Schlacht,
die ihr ersehnt habt! Sie ist notwendig; denn sie bringt uns Überfluß,
gute Winterquartiere und sichere Rückkehr nach Frankreich. Benehmt
euch so, daß die Nachwelt von jedem unter euch sagen kann: Auch er
war in der großen Schlacht unter den Mauern Moskaus!“ Zugleich
eß er das Bildnis seines Sohnes an der Außenseite seines Zeltes auf⸗
hängen, und Offiziere und Soldaten eilten begeistert herbei, die Gestalt
ihres künftigen Herrschers zu betrachten.
Ein anderes Schauspiel bot sich im russischen Lager dar. Die
griechische Geistlichkeit erschien in ihren priesterlichen Gewändern und
og in feierlicher Prozession durch das Lager. Die Bilder der gefeiertsten
Heilligen wurden dem verehrenden Blicke der Truppen vorübergetragen.
XErde und Himmel,“ sprachen die Priester, „sind durch die Fremdlinge
berleht und zur Rache aufgefordert, und der Tapfere in der Schlacht
wird sich unfehlbar die Seligkeit erringen.“ Die Russen antworteten
mit einem begeisterten Hurra.
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