Full text: [Band 3, [Schülerband]] (Band 3, [Schülerband])

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und raubten ihm so den Lohn seines Schweißes. Aber allemal, wenn 
das am Abend geschehen war, reute es Lienhard am Morgen, und 
es ging ihm ans Herz, wenn er Gertrud und seine Kinder Brot 
mangeln sah. 
Gertrud war die beste Frau im Dorfe; aber sie und ihre 
blühenden Kinder waren in Gefahr, ihres Vaters und ihrer Hütte 
beraubt, getrennt, verstoßen, ins äußerste Elend zu sinken, weil Lien— 
hard den Wein nicht meiden konnte. 
Gertrud sah die nahe Gefahr und war davon in ihrem Innersten 
durchdrungen. Wenn sie Gras von ihrer Wiese holte, wenn sie Heu 
von ihrer Bühne nahm, wenn sie die Milch in ihren reinlichen Becken 
besorgte, ach! bei allem, bei allem ängstigte sie immer der Gedanke, 
daß ihre Wiese, ihr Heustock und ihre halbe Hütte ihnen bald werde 
entrissen werden; und wenn ihre Kinder um sie her standen und sich 
an ihren Schoß drängten, so war ihre Wehmut immer noch größer, 
und allemal flossen dann Tränen über ihre Wangen. 
Bis jetzt konnte sie zwar ihr stilles Weinen vor den Kindern ver— 
bergen; aber am Mittwoch vor den letzten Ostern, da auch ihr Mann 
gar zu lange nicht heimkam, war ihr Schmerz zu mächtig, und die 
Kinder bemerkten ihre Tränen. „Ach, Mutter,“ riefen sie alle aus 
einem Munde, „du weinest!“ und drängten sich enger an ihren Schoß. 
Angst und Sorge zeigten sich in jeder Gebärde. Banges Schluchzen, 
tiefes, niedergeschlagenes Staunen und stille Tränen umringten die 
Mutter, und selbst der Säugling auf ihrem Arme verriet ein bisher 
ihm fremdes Schmerzgefühl. Sein erster Ausdruck von Sorge und 
von Angst, sein starres Auge, das zum erstenmal ohne Lächeln hart 
und steif und bang nach ihr blickte, alles dieses brach ihr gänzlich das 
Herz. Ihre Klagen brachen jetzt in lautes Schreien aus, und alle 
Kinder und der Säugling weinten mit der Mutter, und es war ein 
entsetzliches Jammergeschrei, als eben Lienhard die Tür öffnete. 
Gertrud lag mit ihrem Antlitz auf ihrem Bette, hörte das Offnen 
der Tür nicht und sah nicht den kommenden Vater. Auch die Kinder 
wurden seiner nicht gewahr; sie sahen nur die jammernde Mutter und 
hingen an ihren Armen, an ihrem Halse und an ihren Kleidern. So 
fand sie Lienhard. Todesblässe stieg in sein Antlitz, und schnell und 
gebrochen konnte er kaum sagen: „Herr Jesus, was ist das?“ — Da 
erst sah ihn die Mutter, da erst sahen ihn die Kinder, und der laute 
Ausbruch der Klage verlor sich. „O, Mutter, der Vater ist da!“ riefen 
die Kinder aus einem Munde, und selbst der Säugling weinte nicht mehr. 
Gertrud liebte den Lienhard, und seine Gegenwart war ihr auch 
im tiefsten Jammer Erquickung, und auch Lienhard verließ jetzt das erste 
bange Entsetzen.
	        
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