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und raubten ihm so den Lohn seines Schweißes. Aber allemal, wenn
das am Abend geschehen war, reute es Lienhard am Morgen, und
es ging ihm ans Herz, wenn er Gertrud und seine Kinder Brot
mangeln sah.
Gertrud war die beste Frau im Dorfe; aber sie und ihre
blühenden Kinder waren in Gefahr, ihres Vaters und ihrer Hütte
beraubt, getrennt, verstoßen, ins äußerste Elend zu sinken, weil Lien—
hard den Wein nicht meiden konnte.
Gertrud sah die nahe Gefahr und war davon in ihrem Innersten
durchdrungen. Wenn sie Gras von ihrer Wiese holte, wenn sie Heu
von ihrer Bühne nahm, wenn sie die Milch in ihren reinlichen Becken
besorgte, ach! bei allem, bei allem ängstigte sie immer der Gedanke,
daß ihre Wiese, ihr Heustock und ihre halbe Hütte ihnen bald werde
entrissen werden; und wenn ihre Kinder um sie her standen und sich
an ihren Schoß drängten, so war ihre Wehmut immer noch größer,
und allemal flossen dann Tränen über ihre Wangen.
Bis jetzt konnte sie zwar ihr stilles Weinen vor den Kindern ver—
bergen; aber am Mittwoch vor den letzten Ostern, da auch ihr Mann
gar zu lange nicht heimkam, war ihr Schmerz zu mächtig, und die
Kinder bemerkten ihre Tränen. „Ach, Mutter,“ riefen sie alle aus
einem Munde, „du weinest!“ und drängten sich enger an ihren Schoß.
Angst und Sorge zeigten sich in jeder Gebärde. Banges Schluchzen,
tiefes, niedergeschlagenes Staunen und stille Tränen umringten die
Mutter, und selbst der Säugling auf ihrem Arme verriet ein bisher
ihm fremdes Schmerzgefühl. Sein erster Ausdruck von Sorge und
von Angst, sein starres Auge, das zum erstenmal ohne Lächeln hart
und steif und bang nach ihr blickte, alles dieses brach ihr gänzlich das
Herz. Ihre Klagen brachen jetzt in lautes Schreien aus, und alle
Kinder und der Säugling weinten mit der Mutter, und es war ein
entsetzliches Jammergeschrei, als eben Lienhard die Tür öffnete.
Gertrud lag mit ihrem Antlitz auf ihrem Bette, hörte das Offnen
der Tür nicht und sah nicht den kommenden Vater. Auch die Kinder
wurden seiner nicht gewahr; sie sahen nur die jammernde Mutter und
hingen an ihren Armen, an ihrem Halse und an ihren Kleidern. So
fand sie Lienhard. Todesblässe stieg in sein Antlitz, und schnell und
gebrochen konnte er kaum sagen: „Herr Jesus, was ist das?“ — Da
erst sah ihn die Mutter, da erst sahen ihn die Kinder, und der laute
Ausbruch der Klage verlor sich. „O, Mutter, der Vater ist da!“ riefen
die Kinder aus einem Munde, und selbst der Säugling weinte nicht mehr.
Gertrud liebte den Lienhard, und seine Gegenwart war ihr auch
im tiefsten Jammer Erquickung, und auch Lienhard verließ jetzt das erste
bange Entsetzen.