3. Totenfeier.
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Blume war von einer glücklichen Hand gepflanzt: sie wuchs, trieb neue
Schößlinge und trug jedes Jahr ihre Blumen. Sie wurde des kranken
Knaben herrlichster Blumengarten, sein kleiner Schatz hier auf Erden; er
begoß und pflegte sie und sorgte dafür, daß sie jeden Sonnenstrahl bis
zum letzten, welcher durch das niedrige Fenster hinunterglitt, erhielt; und
die Blume selbst verwuchs in seine Träume, denn für ihn blühte sie, ver—
breitete ihren Duft und erfreute ihm das Auge; zu ihr wendete er sich im
Tode, als der Herr ihn rief. — Ein Jahr ist er nun bei Gott gewesen;
ein Jahr hat die Blume vergessen im Fenster gestanden und ist verdorrt,
sie wurde deshalb beim Umziehen in den Kehricht hinaus auf die Straße
geworfen. Und dies ist die Blume, die arme, vertrocknete Blume, welche
wir mit in unsern Blumenstrauß genommen haben, denn diese Blume hat
mehr Freude gewährt als die reichste Blume im Garten einer Königin.“
„Aber woher weißt du das alles?“ fragte das Kind, welches der Engel
gen Himmel trug.
„Ich weiß es!“ sagte der Engel, „denn ich war selbst der kleine, kranke
Knabe, welcher auf Krücken ging!l Meine Blume kenne ich wohl!“
Und das Kind öffnete seine Augen ganz und sah in des Engels herr—
liches, frohes Antlitz hinein; und in demselben Augenblicke befanden sie sich
in Gottes Himmel, wo Freude und Seligkeit war. Und Gott drückte das
tote Kind an sein Herz, da bekam es Flügel wie der andere Engel und flog
Hand in Hand mit ihm. Und Gott drückte alle Blumen an sein Herz;
aber die arme, verdorrte Feldblume küßte er, und sie erhielt eine Stimme
und sang mit allen Engeln, welche Gott umschwebten: einige nahe, andere
um diese herum in großen Kreisen, immer weiter und weiter, bis in das
Unendliche, aber alle gleich glücklich. Und alle sangen sie, kleine und große,
das gute, gesegnete Kind und die arme Feldblume, welche verdorrt dagelegen
hatte, hingeworfen in den Kehricht, unter dem Unrate des Umziehtages, in
der schmalen, dunkeln Gasse.
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Christian Andersen.
Rommet her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid! ich will
euch erquicken!
83. Die Boten des Lodes.
Vor alten Zeiten wanderte einmal ein Riese auf der groben
Landstrabe. Da sprang ihm plöôtzlich ein unbekannter Mann ent—
gegen und rief: „Halt! keinen Schritt weiter!“ — „Was?“ sprach
der Riese, „du Wicht, den ich zwischen zwei Fingern zerdrücken
kann, du willst mir den Weg vertreten? Wer bist du, dab du
so keck reden darfst?“ — „leh bin der Tod,“ erwiderte der andre,