Object: Auswahl erdkundlicher Charakterbilder

Niagara. 1f 
9. Niagara. 
Friedr. Ratzel: Die Vereinigten Staaten von Nordamerika. I.Band: 
Physikalische Geographie und Naturcharakter. München 1878, Druck 
und Verlag von R. Oldenbourg. S. 529—537. (Gekürzt.) 
Das allgemeinste, was man von diesem großartigen 
Schauspiel sagen kann, ist, daß aus dem Eriesee, welcher 
180 m über dem Meere liegt, der Niagara erst langsam, 
dann mit rascherm Wellenschlag gegen den Abgrund zu 
fließt und hart vor demselben durch eine Insel in zwei 
Arme geteilt wird, mit denen er in die Tiefe stürzt. Das 
Tal, in das der Niagara stürzt, ist eine Schlucht in der 
Hochebene, so daß der Wasserfall also unter dem Niveau 
des umgebenden Landes liegt. Die Gegend rings umher 
ist vorwiegend flach und läßt in nichts die Nähe einer so 
gewaltigen Erscheinung vermuten. Am Ufer des Niagara 
liegt hart unter den Fällen auf der amerikanischen Seite 
das Dorf Niagara Falls, auf der kanadischen Clifton, und 
beide verbindet eine Hängebrücke. Jenseits der Brücke 
angekommen, geht man auf der Straße, welche auf der 
kanadischen Seite am Flusse hinführt, direkt auf den 
kanadischen Fall zu, wobei man den amerikanischen in 
voller Front zur linken Hand hat. 
Auf halbem Wege zwischen der Brücke und dem 
Fall führt ein Weg zu einem Fährhause hinab, 
wo man Boote haben kann, um in die Brandung 
hinein- oder zum andern Ufer hinüber zu rudern. Dieser 
Weg bietet mit die besten Aussichtspunkte, und von dem 
Platze vor dem Fährhause schien mir die beste Gesamt- 
anficht beider Fälle und ihrer Umgebung möglich zu sein. 
' Gerade gegenüber stürzt der Arm des Niagara 
herab, der den amerikanischen Fall bildet. Es ist 
das einfachste Bild einer enormen stiirzenden Wasser- 
masse; 350 m breit daherkommend, biegt sie sich 
über die Kante des Abgrundes, welche hier wie eine ein- 
fache, ungebrochene Linie erscheint, zerstäubt dann sofort 
an verschiedenen Unebenheiten, ohne eigentliche Kaskaden
	        
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